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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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war.
    Vielleicht war die Tonbandaufnahme auch eine Fälschung. Aber eine Stimme ist nicht so leicht zu fälschen wie ein Video. Das ist viel schwieriger.
    Draußen tobte in der Morgendämmerung wieder der Kampf der Hähne. Als Kinder sammelten wir Maikäfer, die wir den Hühnern zum Fraß vorwarfen. Es entstand ein eifriges Gepicke. Der gravitätisch schreitende Gang der Hühner stand in seltsamem Kontrast zu dem ruckartigen, schnellen Auf und Ab der Hühnerköpfe. Wie die Nähnadeln ratternder Nähmaschinen, die mit einem Irrsinnstempo auf- und niedersausten, im rasenden Rhythmus die Ausbuchtung des Schiffchens durchstießen und in den unter dem Schiffchen liegenden Stoff die Naht legten.
    Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ein Zauberer auf seinem Schlapphut durch das Fenster auf mein Bett geschwebt wäre.
    »Hallo, Chef, ich bin ganz real«, rief er, um dann wie eine Seifenblase bunt schillernd zu zerplatzen.
    Es war für mich immer ein Leichtes, mich ständig neu zu erfinden. Neben meinem siamesischen Zwillingsbruder hatte ich noch andere Brüder. Hilfsbrüder, die ich je nach Bedarf erfand, benutzte und nach Erfüllung ihrer Aufgabe ins Nichts zurückschickte. Das Einzige, was ich ihnen von mir auslieh, war die Hülle meines Körpers. Mit mir als Person hatten diese Hilfsbrüder nichts gemein. Es waren Konstrukte, Mittel zum Zweck. Das war durchaus praktisch. Ich konnte ihnen beim Erledigen ihrer Aufgaben unbeteiligt zuschauen und mich, wenn nötig, aus allem raushalten. Ich hielt mich mit der Zeit fast immer raus. Es wurde mir zur Gewohnheit. Es war bequem. Was konnte ich dafür, wenn etwas schief ging? Es waren die Hilfsbrüder, die dafür verantwortlich waren. Ihre Erfindung wurde zum routinierten Alltag. Sie wurden zu Wegwerfbrüdern. Benutzen, zusammenknüllen, wegwerfen. Taschentücher. Ich schlenderte hinterher, blieb stehen, schaute ihnen zu, trank einen Espresso, schwieg, lachte und amüsierte mich, wenn einer meiner Erfindungen, die ja doch trotz aller Distanz alle ein Stückchen von mir waren, ein Späßchen glückte oder eine Finte mit dem Gegner, die ich noch nicht kannte. Dass ich mich dabei Stück für Stück von mir entfernte, störte mich nicht. Wer verzichtete schon gerne auf seine gehorsamen Diener? Auf die willigen Sklaven eines Willens, der nicht aufgestört werden wollte? Ein wahrnehmbares Selbst, ein unverwechselbares Ich hätte mich gestört. Also mied ich es. Ich wusste, dass ich mir selbst aus dem Weg ging. Ich hinterfragte nicht, warum ich es tat. Viele falsche Selbst waren für mich zehn Mal günstiger als ein wahres Selbst. Das spürte ich. Also ignorierte ich es. ›Selbst ist der Mann‹ war für mich schon immer ein lächerlicher Spruch. Das waren subalterne Wichtel, die im eigenen Vorgarten als Gartenzwerge unter Einsatz aller Mittel um die Anerkennung anderer Wichtel hausieren gingen. Das widerte mich an. Als Laufburschen ihrer Egomanie wurden sie zu Opfern ihrer Egomanie.
    Das konnte mir nicht passieren. Ich existierte einfach nicht. Ich erfand mich für jede Situation jeweils neu. Ich selbst hielt mich raus aus allem.
    Ich spürte, dass sich in diesem Beziehungsgeflecht meiner selbst etwas verändert hatte. Ich lebte und arbeitete auf engem Raum mit Menschen zusammen, die ich nicht kannte, die mir völlig fremd waren. Was wusste ich von Barbara, Corinne, Martin und Torsten? Ich wusste nichts von ihnen. Vor kürzester Zeit noch wäre es für mich undenkbar gewesen, dass ich mich derart auf Fremde eingelassen hätte.
    Begonnen hatte alles mit dem überraschenden Erscheinen der Rothaarigen mit dem gelben Koffer. Sie hatte jede Distanz eingerissen. Ich hatte keine Zeit gehabt, einen Hilfsbruder zu erfinden und gegen sie ins Feld zu schicken. Ihre plötzliche Präsenz überrumpelte mich. Betört wie ein Jungbulle in der ersten Brunst ließ ich mich von ihr in eine Falle namens Nardini locken. Mein siamesischer Zwilling, ein Spezialist in diesen Dingen, hatte völlig versagt. Sie hatte mir das Foto des Priesters gegeben. Keine Alarmglocke schrillte. Mit dem Kreuz meiner Kindheit schritt er mir seitdem wie bei einer Prozession an Fronleichnam voraus. Direkt vom ›Dollinger‹ bis hierher nach Schlabbach. Das alles hätte mich stutzig machen sollen. Stattdessen trottete ich zum Polizeiärztlichen Dienst. Dort kam alles endgültig ins Rollen. Alle Sicherungen waren bei mir raus.
    Fritz Neuhaus saß nach wie vor im Schrank und pennte.
    Die

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