Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
vollzogen. Andere warteten verängstigt. Immer in der Angst, auf der Stelle abgeschoben zu werden. Über Nacht, Hals über Kopf, nur mit dem Nötigsten versehen. Auf mich wirkt das Lager wie ein gigantisches Experimentierfeld zum Studium menschlicher Angst. Alle Regeln sind außer Kraft gesetzt. Die zuständigen Behörden reagieren aber nicht. Im Gegenteil. Der Druck wird immer größer.«
Ich hörte die Worte des Richters im Amtsgericht. Martha Klein wünschte sich das chirurgisch präzise Folterinstrument, das in und an den Gequälten keine Spuren hinterließ. Glückliche Opfer ohne Erinnerung an die Torturen, die sie erleiden mussten. Frau Quack war noch nicht am Ende.
»Nun zu dem Bericht von Lea Bosic. Dem Protokoll einer Vernehmung. Es geschah etwas sehr Merkwürdiges. Einen Tag vor seinem Tod wurde Nemec ins Lager gerufen. Ein 15-Jähriges Mädchen war gestorben. Nemec untersuchte sie. Zu seiner Verblüffung war das Mädchen extrem unterkühlt. Nemec vermutete, dass es, obwohl immer kerngesund, an Herzversagen gestorben war. Nemec beantragte eine Autopsie. Die hatte nie stattgefunden. Ein Arzt des Gesundheitsamtes stellte einen ganz normalen Totenschein aus. Die Leiche des Mädchens wurde noch am gleichen Tag in seine Heimat in die Türkei überführt. Es sah aus wie die Flucht einer Toten. Am gleichen Tag hat auch diese Vernehmung stattgefunden, die Lea anschließend protokolliert hat und die Sie gelesen haben. Lea musste als Übersetzerin dabei sein. Es war furchtbar für sie. Sie wusste bis dahin nur Ungefähres und nichts Genaues. Sie brach zusammen. Der stille Pakt des Schweigens zwischen Mutter und Tochter war gebrochen. Die Mutter weigerte sich, zu sprechen. Man drohte ihr und den beiden Kindern mit sofortiger Abschiebung. Die Mutter war schon lange schwer zuckerkrank. Sie litt oft unter Albträumen, Gedächtnisverlust, immer wieder begann sie heftig zu zittern, sie klagte über den vermeintlichen Verlust ihrer Gliedmaßen, ihrer Zunge, dann begann sie zu stottern und zu nuscheln. Sie verfiel tagelang in depressives Schweigen, beklagte sich über Lea, dass die sich nicht richtig um sie kümmerte, dass sie eine schlechte Tochter sei, die ihre Mutter nicht verstünde, die doch alles für ihre Kinder gemacht hätte, dass die Tochter dran schuld sei, dass es der leiblichen Mutter so schlecht ginge. Dann weinte sie wieder und beschimpfte sich selber, dass sie eine Rabenmutter sei und schuld an allem Elend. Lea war ständig hin- und hergerissen. Sie litt unter dem Zustand ihrer Mutter, ohne genau zu wissen und zu verstehen, worunter sie so litt. Nach dem Verhör wusste sie es. Seitdem ist sie außer sich. Suizidgefährdet. Die Mutter wurde wenige Stunden nach dem Verhör abgeschoben. Nach Bosnien. Sie hat den Transport überlebt. Wenige Tage nach ihrer Ankunft ist sie gestorben. Vor ihrer Abschiebung beschwor sie ihre Kinder, unterzutauchen. Das haben sie auch gemacht. Anfangs hat ihnen Valerio Donati, der Priester, Schutz geboten, bis sich der Zustand von Lea so verschlimmerte, dass sie in die Klinik musste. Thomas ist mal hier, mal da. Er soll die Tankstelle überfallen haben. Mein Gott.«
Sie machte eine Pause. Sie hatte Mühe weiterzusprechen und weinte.
»Lea und Thomas wissen das noch gar nicht, dass ihre Mutter tot ist. Glaube ich jedenfalls. Sicher bin ich mir nicht. Sie würden es nicht verkraften. Aber von wem sollten sie es wissen? Ich weiß es von einem Aufbauhelfer, der da unten Dienst macht und den ich gebeten hatte, sich um die Mutter zu kümmern.«
Sie rang um Fassung.
»Thomas hat alles, das Morden, den Verlust des Vaters, dessen Tod er mit ansah, aus einem Schrank, in dem er sich mit Lea versteckt hatte, die Flucht, das ganze Elend viel bewusster erlebt als seine Schwester. Er entwickelte seine Laufbänder, um sich mitteilen zu können, ohne dass es ihn berührt, worüber er spricht. Er leidet besonders darunter, als Mann versagt zu haben und dass er seinen Vater nicht retten konnte, niemanden von der Familie. Dass er seine Mutter nicht schützen konnte, seine Schwester nicht. Dass er die Abschiebung der Mutter nicht verhindern konnte. Die Nachricht von ihrem Tod würde er nicht ertragen. Es gäbe eine Katastrophe. Er streifte schon immer tagelang einsam durch die Gegend. Sie leben seit sechs Jahren hier. Er hat keine Schule besucht, er macht keine Ausbildung, nichts. Er hat sich alles selbst beigebracht. Er ist sensibel und intelligent. Lea zumindest ist ein paar Jahre in die
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