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Fröhliche Wiederkehr

Fröhliche Wiederkehr

Titel: Fröhliche Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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von seinem Erzeugnis und beurteilte den Stoff mit der gleichen prüfenden Kennerschaft, mit der Winzer am Rhein ihre Fässer überwachen.
    Mitte November holte Anna die großen runden Blechbüchsen vom Speicher, und in der Küche begann ein geheimnisvolles, äußerst wohlriechendes Treiben. Gleichzeitig wurde die Doppeltür zum >Salon< zugesperrt. Für vier Wochen entzog sich die prächtige rote Plüschgarnitur aus den achtziger Jahren meinem Blick, und wo ich auch sein mochte, war ich unerwünscht und irgend jemandem im Wege. Die Schwestern durften das Prunkzimmer halbstundenlang betreten, um am Klavier zu üben, Paradestücke aus Salonalben, mit denen sie sich am Heiligen Abend den ergriffenen Eltern und den über soviel Fingerfertigkeit staunenden Großeltern präsentierten. Mir trichterten sie ellenlange Gedichte ein, während sie selber neben ihren Klavierübungen Dinge produzierten, die viel Bewunderung erregten. Lotte verfertigte für Vater und auch für Großvater Heinrich Serviettenhalter, ein grünes Filzband mit zwei Nickelklammern, auf das sie den völlig überflüssigen Wunsch >GUTEN APPETIT< stickte, denn über Mangel an Appetit hatte sich auch Großvater nie zu beklagen gehabt. Else aber hatte zwei Gemälde auf der Staffelei, ein sogenanntes Pendant, einmal eine Frühlingslandschaft mit rosigen Wölkchen, rosig überschäumten Kirschbäumen und klingelnden Enten auf einem perlmuttfarbenen Teich — und ein Winterbild mit tief verschneiten Tannen, einem traulichen Häuschen mit erleuchteten Fenstern und einem rauchenden Kamin.
    Und Mutter fand zwischen dem Backen von Pfefferkuchen, Ausstechern, Spekulatius, Mandelplätzchen und Konfekt aller Art, die nach und nach die Blechdosen füllten — Mutter fand zwischen dem Zerwirken eines Schweineviertels, dem Schlachten der Gänse, dem Einkochen von Sülzen, dem Marinieren von Heringen und Rollmöpsen, dem Gelieren von Aalen und Schleien, dem Wurstmachen, dem Pökeln des Schweineschinkens und dem schwierigen Geschäft des Backens von Randmarzipan noch Zeit, um für Vater mit Schnitzmesser, Brenngebläse und Ölpinsel einen kunstvollen Zigarren- und Likörschrank anzufertigen, ein wahres Prachtstück, das in den folgenden Jahren von den Damen ihres Kränzchens oft nachgemacht, aber in dieser hochkünstlerischen Vollendung nie erreicht wurde. Ja, Mutter hatte Phantasie und überraschte Vater jedes Jahr aufs neue, während er ihr alljährlich mit einem feierlichen Gesicht, als entschleiere er das verhüllte Bild zu Sais, einen Topf mit Alpenveilchen, eine neue Handtasche, ein Paar Glacéhandschuhe und eine Flasche Kölnisch Wasser überreichte.
    Wie war man aufgeregt, bis endlich im Salon die kleine Stielglocke ihr Geläut ertönen ließ, sich die Doppeltür endlich öffnete und den Blick auf den zimmerhohen Tannenbaum mit seinem strahlenden Kerzenschmuck freigab. Noch waren die Geschenke unter dem Baum mit weißen Tüchern verhüllt. Ernst improvisierte leise am Klavier, es roch so gut nach Wachs und Tannenharz, blaue und rote Glanzpapiere warfen geheimnisvolle Lichter auf die Krippe. Die Großeltern saßen hinter dem Mahagonitisch auf dem roten Sofa, Großvater schnüffelte vor Rührung, und dann verlas Vater von dem Paradepult, auf dem sonst der goldgeschnittene Prachtband >Preußen und sein Königshaus< lag, aus der großen Bilderbibel das Weihnachtsevangelium. Dann setzte Ernst am Klavier mit einem Vorspiel ein, und Vaters orgelnder Baß dröhnte über Mutters Diskant hinweg, zum Glück, denn ihr gerieten die Tonarten immer ein bißchen durcheinander. Oh du fröhliche, oh du selige — und dann ging es endlich ans Verteilen der Geschenke.
    Das war 1910, im letzten Jahr völliger Kinderfreiheit, denn zu Ostern sollte ich auf die Schule kommen. Dieser Heilige Abend hätte für mich fast recht unheilig geendet. Ich bekam meine ersten Schlittschuhe, Wunderwerke der Technik, mit Absatz- und Sohlenverschraubungen, und ich probierte sie sogleich auf dem spiegelblank gebohnerten Boden des Salons aus, während die anderen im Eßzimmer tafelten. Vielleicht rettete mich die Husarenuniform, die mir die Großeltern geschenkt hatten, vor Vaters Zorn über den total zerkratzten Fußboden; denn einem preußischen Husarenoffizier vom Leibregiment des Kronprinzen konnte er als königlich preußischer Beamter nicht ohne weiteres eine Maulschelle verpassen. —
    Kurz vor der Abreise nach Königsberg bekam ich meinen ersten Hosenanzug. Bis dahin war ich in den gleichen Kitteln

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