Fröhliche Wiederkehr
herumgelaufen, die auch die Mädchen trugen. Dort, wo die Bahnhofstraße in den Marktplatz mündete, stand rechterhand das Bekleidungshaus der Herren Becker & Jacoby, ein stattlicher, weiträumiger Bau, der es mit jedem großstädtischen Unternehmen der gleichen Branche aufnehmen konnte. Das Haus führte Robes und Modes für Damen, Herrenkonfektion und Kinderkleidung. Der Becker war Christ, der Jacoby war Jude, aber es hieß allgemein: der größere Jude ist der Becker. Herr Jacoby war nämlich der mehr im Hintergrund wirkende Geldmann und Einkäufer, während Herr Becker das Ladengeschäft und den Verkauf leitete. Es war ein Haus, wie es in seiner Art nur in der Nähe der russischen Grenze bestehen konnte. Man erzählte sich, daß stets, wenn die auf die Festung Grodno und die Städte Augustowo und Lhomza verteilten Kavallerie- und Artillerie-Regimenter neue Remonten aus den russischen Heeresgestüten bekämen, diese neu angekommenen Remonten über die Grenze getrieben und verkauft würden. Für einen geringen Teil des Erlöses erstände man uralte Kraggen, um in den Regimentsställen die Sollzahl an Pferden vorweisen zu können, während der größere Teil des Geldes bei Becker & Jacoby bliebe. Vater hielt diese hartnäckig auftauchenden Gerüchte nicht für unwahrscheinlich. Bei einem Mordprozeß — der Fall hatte sich an der Grenze zugetragen und ein russischer Waldarbeiter wurde des Notzuchtverbrechens und Mordes an einer Pilzsammlerin beschuldigt — wurde ein russischer Richter aus Bialystok als Sachverständiger und Dolmetscher hinzugezogen. Nach der Verhandlung, die mit einem Todesurteil endete, war der Russe bis zur Abfahrt seines Zuges Gast in unserm Haus. Dabei kamen die Herren auch auf deutsche und russische Beamtengehälter zu sprechen, und der Russe zog respektvoll die Brauen hoch, als er hörte, was Vater an Gehalt zustand. »Bei mir ist es bedeutend wänniger,« sagte er in seinem harten Deutsch, doch dann blinzelte er Vater an, »abberr wir chabben gewisse Näbeneinnammen — Sie verstähen...!« Vater wagte nach diesen Näbeneinnammen nicht zu fragen, aber er war davon überzeugt, daß drüben nach dem Grundsatz >wer gut schmeert, der gut fährt< gerichtet und geurteilt wurde. —
Zu Becker & Jacoby mitgenommen zu werden, war jedesmal ein besonderes Ereignis. Denn dort stand in einem mit Tischen und Polsterstühlen möblierten Nebenraum stets ein Kessel mit heißen Würstchen für die Kunden bereit, heißen Würstchen mit knackender Haut, die es daheim nur zu ganz seltenen Gelegenheiten gab, denn Vater hätte einige Dutzend davon vertilgt. Er war mehr für einen richtigen soliden Ring Knoblauchwurst. Die Damen durften sich während ihrer Einkäufe und Anproben an Kaffee und Torten delektieren. Und hinter diesem Zimmer gab es — oder soll es einen mit den behaglichsten Möbeln ausgestatteten Raum gegeben haben, in dem die russischen Offiziere mit eigenen und fremden Damen bei nächtlichen Einkäufen rauschende Orgien feierten. Tatsächlich waren russische Offiziere mit ihren breitrandigen grünen Mützen und den großen Schulterstücken kein seltener Anblick. Es bestanden freundschaftliche Beziehungen zwischen den benachbarten Garnisonen. Und Damen, die bereit waren, den fremden Kavalieren den Aufenthalt in Deutschland angenehm zu machen und ihnen die Langeweile zu vertreiben, gab es auch. Zwei von ihnen wohnten in unserer unmittelbaren Nähe in der Bahnhofstraße. Ich habe sie allerdings nie zu Gesicht bekommen, denn sie verließen ihre Wohnung nie vor Anbruch der Nacht. Es wurde viel über sie getuschelt. Einmal schnappte ich auf, daß es sich bei ihnen um >Feuchte Weiber< handle, was meine Phantasie anregte, ihnen eine nixenhafte Gestalt und triefende Rocksäume anzudichten. Von Mutter erfuhr ich später, daß sie bildhübsch, hochelegant und so eng geschnürt gewesen wären, daß sie richtige Wespentaillen besessen hätten. In der Hysterie der ersten Kriegstage wurden sie als Spioninnen verhaftet und verschwanden von der Bildfläche.
Königsberg brachte zwar das Erlebnis einer bis dahin unbekannten Sensation, sonst aber bot es mir nichts als Enttäuschungen. Auch die erste lange Eisenbahnfahrt war wenig befriedigend, denn ich mußte stillsitzen und durfte mich nie der Tür nähern; alle taten genauso, als wäre die hohe Quote der Kindersterblichkeit einzig und allein auf das Herausstürzen von Kindern aus fahrenden Zügen zurückzuführen. Dafür durfte ich, endlich am Ziel der Reise
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