Fröhliche Wiederkehr
anzusprechen. Es war ein saalartiges Klassenzimmer mit drei langen Bankreihen zu je zwei Sitzen.
Mein Nachbar hieß Hilmar Neumann, hatte Schlitzaugen und wurde vom ersten Schultag an nur noch >Japs< genannt. Meine Mutter kannte seine Mutter, denn Neumanns besaßen das große Wäschegeschäft am Münzplatz, wo Mutter Kundin war. Herr Hoffmann trug unsere Namen, wobei ihm Väter und Mütter zur richtigen Schreibweise verhalfen, nach unserer Sitzordnung in sein Notizbuch ein. Dann verteilte er die Stundenpläne an die Eltern, und damit waren wir fürs erste entlassen. Das war ziemlich enttäuschend, denn ich hatte mir in meinem Wissensdurst vom ersten Schultag etwas mehr erwartet. Auf dem Stundenplan war auch verzeichnet, was wir für die Zukunft an Lernmaterial, Büchern und Heften, benötigten. Und damit begann für Mutter die Sorge, in ihrem Nähtischchen ein neues Tresorfach mit meinem Namen anzulegen. Am meisten störte sie, daß wir unsere ersten Schriftübungen nicht auf der üblichen Schiefertafel, sondern dem Rang des Friedrichskollegiums entsprechend sofort mit Tinte und Feder in den Schreibheften zu absolvieren hatten. Den Schulranzen aus echtem Rindleder hatten mir die Großeltern schon zum Geburtstag geschenkt. Nun durfte ich ihn, als ich mit Mutter am Nachmittag die erforderlichen Bücher und Hefte einkaufen ging, zum erstenmal tragen. Es war ein großer Augenblick, als ich das Wissen in seiner ganzen Gewichtigkeit zum erstenmal auf dem Rücken spürte. Daß sich das dünne Rechenbüchlein mit den Ziffern von eins bis hundert und dem Kleinen Einmaleins über abstrakte lateinische und griechische Buchstaben bis zu den Weltraumnebeln der Infinetesimalrechnung ausweiten würde, ahnte ich an jenem glücklichen Tage nicht, mir wären sonst wohl Herz und Beine schwer geworden.
Der Weg von der Wohnung in der Ziegelstraße in die Jägerhofstraße, in der meine Schule lag, war kurz. Nach vielen Ermahnungen, beim Überqueren der Königstraße mit ihrem Droschken- und Straßenbahnverkehr ja recht vorsichtig zu sein, durfte ich den Schulweg schon nach wenigen Tagen ohne Begleitung zurücklegen. Auch der Japs durfte bald allein kommen, wir schlossen rasch Freundschaft und verachteten und verhöhnten die Transusen, die noch immer von ihren Müttern zur Schule geführt wurden. Einen nahmen wir besonders aufs Korn, denn er wurde noch nach einem halben Jahr vom Dienstmädchen zur Schule begleitet. Während wir kahl geschoren oder mit kurzen Scheiteln herumliefen — Vater besaß eine Haarschneidemaschine der Marke Kohinoor, mit der er mich alle vierzehn Tage bis auf die Kopfhaut kahl schor — trug er noch blonde Locken, die ihm bis auf die Schultern fielen. Und außerdem trug er nicht wie wir alle den Matrosenanzug mit blauer oder blauweiß gestreifter Bluse, sondern schwarze Samtanzüge mit Krägen und Manschetten aus gelber Spitze. Wir bespritzten ihm den Kragen und die Manschetten mit Tinte, beschmierten den schwarzen Samt mit allem möglichen Unrat und zwiebelten ihn auf jede erdenkliche Weise, bis wir entdeckten, daß er in seiner Frühstückstasche mit dem goldenen Aufdruck >Mein Frühstück von daheim Köstlichkeiten mitbekam, die wir nicht einmal dem Namen nach kannten. Mohnbrötchen, die statt mit Blutwurst mit feinen Schokoladenplättchen belegt waren, oder Semmeln mit Räucherlachs, Gänsebrust, Roastbeef mit Mayonnaise oder mit einer Leberpastete von einem geradezu himmlischen Wohlgeschmack. Er hieß Siegfried Silberstain und war der Sohn eines Pelzhändlers, an dessen Schaufenstern Mutter immer ganz schnell vorüberging, um >nicht vor Neid gelb zu werden<. Der Japs, ich und noch ein paar Rabauken, die sich uns angeschlossen hatten, ließen ihn fortan mit seinen Locken und Samtanzügen ungeschoren, aber wir erpreßten ihn schamlos und zwangen ihm unsere Schmalzbrote auf, während wir ihm wegfraßen, was er in die Schule mitbrachte. Sie müssen sich bei ihm daheim maßlos darüber gewundert haben, welche Mengen an Mohnbrötchen mit Schokolade und Gänseleberpastete er täglich zum Frühstück verputzte. Was wir ihm, der nur koscher aß, mit dem Schweineschmalz und der Blutwurst antaten, ist mir erst sehr viel später aufgegangen. -
In der Schule lernten wir inzwischen unter der Anleitung von Herrn Hoffmann mit spitzer Feder haardünne Aufwärtsstriche und mit größerem Andruck stärkere Abwärtsbalken auf die linierten Seiten unserer Hefte zu malen, das I, das N und das M, und drangen schließlich bis zu
Weitere Kostenlose Bücher