Fröhliche Wiederkehr
hatte eine Leidenschaft entdeckt, die mich ein ganzes Leben lang nie mehr loslassen sollte.
Zur Belohnung für das gute Versetzungszeugnis nach Sexta durfte ich in den Sommerferien zu den Großeltern nach Lyck fahren, zum erstenmal allein, ohne Aufsicht und ohne Begleitung. Die Eltern brachten mich zum Bahnhof, und Vater überließ mir die Entscheidung, dritter oder vierter Klasse zu fahren; als ich hörte, daß ich den Differenzbetrag behalten dürfte, wählte ich selbstverständlich die vierte Klasse für Reisende mit Traglasten. Vater löste das Billett und drückte mir zu der Mark, die ich erspart hatte, noch ein Fünfzigpfennigstück in die Hand. Dann setzten sie mich in eines der Abteile mit dem großen freien Mittelraum und den rings um das Abteil angebrachten harten Holzbänken. Mutter, in einem neuen Sommerkostüm sehr elegant, legte ein Päckchen mit belegten Broten und eine Rolle mit sauren Fruchtbonbons auf mein Köfferchen, und dann standen sie vor der offe-nen Abteiltür, warteten auf den Abgang des Zuges und gaben mir die letzten guten Ratschläge mit auf den Weg: »Nach zwei Stunden kommt Korschen«, sagte Vater, »dort hält der Zug eine halbe Stunde, weil es der größte Eisenbahnknotenpunkt ist. Wenn du Durst bekommst, dann kannst du am Bahnhofsbüfett etwas trinken, aber kein Bier sondern Limonade, verstanden?!« Die Mitreisenden versprachen Vater, streng darauf zu achten, daß ich in Korschen kein Bier, sondern Limonade trinken würde.
»Lind in Lyck holt dich Großvater von der Bahn ab«, sagte Mutter.
»Und lauf nicht auf dem Perron herum, sondern bleib stehen und warte ab, bis du ihn siehst!« sagte Vater. »Und sitz im Zug ruhig und benimm dich manierlich!« sagten beide. Und dann setzte sich der Zug endlich in Bewegung, und sie winkten mir nach, und ich winkte zurück. Wie Vater es vorausgesagt hatte, hielt der Zug in Korschen eine halbe Stunde lang, aber ich konnte mein Geld sparen, denn eine Frau gab mir von ihrem Tee, von dem sie zwei Literflaschen auf die lange Reise mitgenommen hatte, einen Becher ab. In Lyck angekommen, entdeckte ich Großvater sofort, denn mit seiner Größe war er wirklich nicht zu übersehen. Die Freude des Wiedersehens nach so langer Zeit war beiderseits riesengroß, und Großvater war mächtig stolz auf mich, als ich ihm erzählte, daß ich nach Sexta versetzt worden sei.
»Das wird auch Großmutter freuen«, sagte er, »nur schade, daß sie das Zuckerei umsonst geklopft hat — oder essen auch Sextaner noch solch ein süßes Geschlabber?«
Er konnte bald feststellen, daß auch Sextaner es nicht für unter ihrer Würde hielten, ein Zuckerei zu essen.
Ich machte eine überraschende Entdeckung, nämlich daß die beiden geliebten Menschen alte Leute geworden waren. Großmutter hatte die letzten Zähne verloren und kam beim Essen mit ihrem Kinn fast bis zur Nasenspitze, und Großvater war noch dicker und so bequem geworden, daß er den kurzen Weg zum Frühschoppen beim Bienkowski nur noch mit dem Einlegen von Verschnaufpausen schaffte. Seine Stammtischrunde tagte noch vollzählig, aber auch seine Freunde hatten sich verändert. So schlimm hatten die Hände von Herrn Caspary früher nicht gezittert, und so weiß hatte ich den Bart von Herrn Schlüter auch nicht in der Erinnerung. Auch Herr Bienkowski bekam die Füße nicht mehr vom Boden, wenn er zwischen Theke und Stammtisch hin- und herschlurfte.
»Der Jung ist nach Sexta versetzt worden!« verkündete Großvater seinen Freunden, »was sagt ihr dazu?«
Es schien ihnen sehr zu imponieren, am meisten wohl Herrn Bienkowski, denn er sagte zu Großvater: »Ja, Heinrich, da wird dir nun nichts anderes übrig bleiben, als deinem Sextaner einen Grog zu spendieren.«
»Aber nicht bis zu den Kirchenfenstern, Gustav!«
Die Groggläser waren bis zur Hälfte geschliffen, und der Schliff endete in Spitzbögen, die den gotischen Fensterbögen der Lycker Kirche ähnelten. Ich bekam meinen Grog, sehr dünn und wässerig, aber immerhin, es war ein Anfang. Bei den Herren wurde der Rum genau bis zur Höhe der Schliffbögen in die Gläser gefüllt, und das ergab ein ziemlich kräftiges Gebräu. Es ist durchaus möglich, daß Großvater an diesem Vormittag etwas zuviel davon erwischt hat. Sein
Appetit beim Kalbsbraten, den Großmutter uns zum Mittagessen vorsetzte, litt darunter nicht. Aber nach der Mahlzeit legte er sich gleich zu Bett. Leider war er wirklich allzu bequem und unbeweglich geworden, denn sogar bei jenen
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