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Fröhliche Wiederkehr

Fröhliche Wiederkehr

Titel: Fröhliche Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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konnte die Parade nicht beginnen, und wir trafen nur wenige Minuten nach ihm auf Herzogsacker ein. Zuerst war es ja auch wirklich ein prächtiger Anblick, wie unsere Kürassiere in ihren weißen Uniformen mit den silbernen Brustharnischen und blitzenden Nackenhelmen in breiter Front anritten, gefolgt von schwarz uniformierter bespannter Artillerie, von klingenden Spielmannszügen und dem Stechschritt der Infanteristen. Und dann zog als Höhepunkt der Kaiserparade, hoch droben in der goldenen Septemberluft, von den Menschenmassen, die den Rand des Exerzierplatzes säumten, bestaunt und bejubelt, eine Rumpler-Taube ihre knatternden Schleifen. Der junge Mann, an dessen Seite ich das erste Flugzeug durch die Luft kurven sah, jubelte nicht. Atemlos und mit großen Augen verfolgte er die Manöver des kleinen Aeroplans mit einer Verzückung, als erblicke er eine überirdische Erscheinung.
    »Eine Rumpler-Taube!« stieß er mit keuchendem Atem hervor, und seine Finger schlossen sich wie eine Eisenklammer um meinen Arm, »sieh sie dir genau an, du Gartenzwerg! Der Mensch kann fliegen! Ich hab’s nicht glauben wollen. Er kann wahrhaftig fliegen! Wie ein Vogel fliegen!« Und er starrte der am Horizont entschwindenden Maschine mit ausgebreiteten Armen nach, als ob er ihr nachflattern wolle.
    Wenige Jahre später erschien er, vom Geheimrat fast so feierlich empfangen wie der Kaiser am heutigen Tag, noch drahtiger und noch eleganter, als ich ihn von dem Erlebnis der ersten Rumpler-Taube über Herzogsacker in Erinnerung hatte, im Schmuck des frisch erworbenen Pour le mérite und mit einer unsäglich flott geknifften Leutnantsmütze auf dem Kopf in unserer Schule und ließ sich von dem Geheimrat als Held feiern. Aber der Bericht, den er uns von dem hohen Pult der Aula über seine Heldentaten auf Wunsch des Geheimrats geben sollte, fiel sehr zurückhaltend aus. Und es dauerte auch nicht lange, daß der Geheimrat nach dem griechischen Vortrag der berühmten Trauerrede, die Perikies einst für die Gefallenen des Peloponnesischen Krieges gehalten hatte, mit bewegter Stimme und feuchten Augen inmitten der vielen Namen von ehemaligen Schülern seiner Anstalt, die für Kaiser und Reich den Heldentod erlitten hatten, auch seinen Namen nannte.
    Aber noch ritten sie und noch marschierten sie, von denen so viele sterben sollten, vor den Augen ihres allerhöchsten Kriegsherrn im Parademarsch dahin. Doch bald nebelten dicke gelbe Staubwolken das bunte Bild ein. Mein Interesse begann dahinzuschwinden, und mit der abnehmenden Aufmerksamkeit stellte sich eine innere Not ein, die mich schrecklich zu quälen begann. Der Primaner bemerkte es schließlich, wie ich immer schneller von einem Bein und von einem Fuß auf den anderen trat; er blickte sich ratlos um und zischte mir zu: »Um Gottes willen, du kleines Rindvieh, hier kannst du doch nicht pinkeln! Mach bloß, daß du wegkommst!«
    Und ich machte, daß ich wegkam. Ach, wenn es nur um das bißchen Pinkeln gegangen wäre! Aber es war die große innere Not. Und wohin ich auch blickte, auf diesem riesigen Exerzierplatz gab es nirgendwo einen Busch oder ein verstecktes Plätzchen, das mir aus meiner Not hätte helfen können. Und so schlich ich, des Kaisers Bild mit seiner eigenhändigen Unterschrift unterm Arm, im weißen Matrosenanzug, aber mit vollen Hosen heimwärts.

    Die Vorschule lag also hinter mir. Herr Hoffmann hatte uns das Lesen und Schreiben gründlich beigebracht und mir damit eine neue Welt erschlossen. Als Wildtöter durchstreifte ich an der Seite meines roten Freundes Chingachgook und mit Unkas, dem letzten der Mohikaner, die Urwälder Nordamerikas und die weiten Prärien mit den dahinstampfenden Büffelherden. Das Packeis trug mich mit Frithjof Nansen durch Nacht und Eis. Mit Livingstone folgte ich der blutigen Spur der Sklavenkarawanen quer durch den schwarzen Kontinent. Als Robinson Crusoe rettete ich mich schiffbrüchig an den Strand von Juan San Fernandez, schlüpfte alsbald in die schwarze Flaut von Freitag und ließ mich aus den Händen blutgieriger Kannibalen befreien. Als Jim Hawkins verbarg ich mich mit wild klopfendem Herzen an Bord der Hispaniola in der Apfeltonne. Ich verschlang jedes Buch, das mir in die Hände kam, und ein ausgeprägtes visuelles Gedächtnis ermöglichte es mir, gegen ein kleines Vortragshonorar vor staunenden Zuhörern ganze Seiten aus dem Lederstrumpf oder aus den Tiergeschichten von Ernest Seton Thompson auswendig zu zitieren. Lesen, Bücher, ich

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