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Fröhliche Zeiten

Fröhliche Zeiten

Titel: Fröhliche Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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Rang die Hand reichen, auch führte eine Treppe hinauf; die vorderste überdeckte den Orchestergraben. Tanzfläche war die Bühne, in der Tiefe vor der Brandmauer überragt von einem Zwei-Meter-Podest für die Kapelle. Max Greger und seine Mannen saßen etwa gleich hoch, wie Ballbesucher in der ersten Reihe des Ranges. Dazwischen wogte, auf dem tiefsten Punkt wie im antiken Theater, mit heute nicht mehr vorstellbarer Intensität das Inferno der Lebensfreude.
    Keine andere Raumaufteilung ergibt eine ähnlich aufheizende Konzentration. Wer aus den Proszeniumslogen, vom Rang oder von den Terrassen auf die Bühne hinuntersah, vergaß die rationierte Realität in dieser sprichwörtlichen Traum-Kulisse. Wolfgang Znamenacek, der geniale Bühnenbildner, hatte den Effekt noch mit riesigen, von innen beleuchteten Fischen gesteigert, die oben unter der Decke zu schwimmen schienen, weil die aufsteigende Wärme ihre durchsichtigen Flossen bewegte. Von diesen phantastischen Wächtern der Tiefsee gegen die Außenwelt abgeschirmt, feierten wir auf dem Meeresgrund die Auferstehung vom Untergang. Zynisch lächelnd wie das leibhaftige Laster, stand Friedrich Domin, Protagonist im Hause, an der Rampe, Kostüm und Gesicht geteilt in eine helle und eine dunkle Hälfte — ein geiler Gärtner aus Hieronymus Boschs Garten der Lüste.
    In einbezogenen Nebenräumen gab es Erfrischungsund Schummerecken, draußen im Foyer flanierten die Paare, suchten stiere Blicke nach entschwundenen oder noch nicht gefundenen Nixen, alberten Alberiche mit Rheintöchtern, trugen Radfahrer auf der Lenkstange ihre schöne Beute davon. Einer gar — Freund Boris — knatterte mit dem Motorrad auf den Velours und gab es an der Garderobe ab. Ein vielbelachter, aber auch teurer Auftritt. 20 oder 30 deutsche Mark, immerhin.
    Außer Freund Boris wüßte ich niemanden, der den offiziellen Eintrittspreis bezahlt hätte. Wen ich auch fragte, ob Freunde, Bekannte oder geistig Verwandte, die mir erst später über den Weg gelaufen sind — alle antworteten ohne Zögern:
    »Wir sind nicht vorne rein. Wir sind hinten eingestiegen. Durchs Klofenster.«
    Sie meinten damit eine Toilette im Bühnenhaus auf der Damenseite, wo sich die Garderoben der Schauspielerinnen befinden.
    Als ehemaliger Regieassistent mit den Örtlichkeiten genau vertraut, war auch ich auf diesem Weg hereingekommen. Wie aber hatten die andern davon erfahren? Es müssen an die hundert gewesen sein.
    Einhelliger Kommentar zu Achselzucken: »Das wußte man eben .«
    Man mußte es lange vorher schon gewußt haben. Auch Einzelheiten über Lage und Höhe des Fensters. Aussagen zufolge kamen Ballbesucherinnen nicht kostümiert wie sonst, sondern in passendem Aufzug für eine Fassadenklettertour. Das Faschingskostüm brachten sie in einer Tüte oder im Rucksack mit und zogen sich nach beherztem Sprung auf den Deckel, der Nachdrängenden nicht achtend, an Ort und Stelle um. Der Einstieg erforderte keine besonderen Kletterkünste. Auch Nicht-Schwindelfreie schwindelten sich ungefährdet hinein. Bisweilen muß es draußen beträchtlichen Rückstau gegeben haben. Er wurde diszipliniert hingenommen. Die Wahl zwischen Geduld und D-Mark fiel leicht. Schlangestehen war man ja gewöhnt.
    Eine Ballbesucherin hatte den Krieg nicht auf deutscher Seite, sondern in der Emigration erlebt, die Schauspieler-Agentin Elli Silman. Die quirlige, reichlich mit Siegerspeck bepackte Miss Elli wurde nervös und scherte mit zweien ihrer Schützlinge aus der Schlange aus. Drüben auf der Herrenseite gab es eine Feuerleiter. Allen Warnungen zum Trotz ließ sie sich zur untersten Sprosse hinauflupfen. Einer der beiden Schauspieler kletterte an ihr vorbei, um die Seilschaft ohne Seil anzuführen, der andere wuchtete das mollige Paket von Stufe zu Stufe. Im zweiten Stock sei ein Fenster offen, meldete der Vorkletterer. Miss Elli, noch nicht im ersten, wurde von Schwindel befallen. Angstvoll klammerte sie sich an die Leiter und verweigerte sowohl Auf- als auch Abstieg. »Mach die Augen zu !« riet der Vorkletterer und zog an ihrer Hand. Sie schrie.
    Der Nachkletterer hörte nichts. Er kam sich vor wie der Riese Atlas, nur wesentlich kleiner. Den Kopf ins beträchtliche Hinterteil Miss Ellis gebohrt, faßte er sie abwechselnd an den Knöcheln, um die zitternden Füße sicher auf die nächste Sprosse zu hieven, bevor er die Kopflast weiter himmelwärts bewegte.
    Endlich oben angekommen, stieg der Vormann ein, drehte sich um, stemmte das Knie gegen

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