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Fröhliche Zeiten

Fröhliche Zeiten

Titel: Fröhliche Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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die Mauer und zog die zähneklappernde Miss Elli an beiden Händen übers Fensterbrett wie einen Rochen an Bord. Als alle drei wieder festen Boden unter den Füßen hatten, keuchten sie und wischten sich die Stirnen ab. Dasselbe taten zwei Stockwerke tiefer die Tänzer auf der Bühne nach einer entfesselten Boogie-Woogie-Serie.
    Irgendwie bekam die Theaterleitung Wind von den undichten Stellen im Bühnenhaus. Sie ließ Türen absperren, Fenster vernageln, doch ohne Erfolg. Direktor Harry Buckwitz drehte, als Logenschließer oder Feuerwehrmann getarnt, Kontrollrunden und prüfte auch den offiziellen Einlaß. Die Kosten für den Umbau mußten ja wieder hereinkommen.
    Erst nach Mitternacht legte er das Dienstkostüm ab und schlüpfte in eine Verkleidung, um die Traumkulisse zu genießen, die Stimmung auf sich wirken lassen. Schließlich war er der Initiator. Ihm gebührt nachträglich unser aller Dank.
    Er selbst sagt heute dazu: »Die Traumkulisse in den Kammerspielen, das war nie ein Ball, das war jedesmal ein Fest, das sich die Freunde des Hauses gaben. Jeder kannte beinah jeden oder lernte ihn hier kennen. Alles hatte Stil, war nie brutal oder primitiv. Eine elegante, anspruchsvolle Gesellschaft von ansteckender Unbeschwertheit...«
    Einer aus unserer Clique verweigerte auch ohne Motorrad den sanitären Pfad. Dabei wäre es gerade für ihn ratsam gewesen, den Weg des geringsten Widerstandes zu wählen, hatte er doch aus chevalereskem Leichtsinn gleich zwei Mädchen versprochen, sie hineinzuschleusen. Sei es als Snob, als Ästhet oder als Architekt — mein Freund Schusch zog offene Türen dem Klofenster oder gar der Feuerleiter vor.
    So näherten sich etwa um die elfte Abendstunde drei biedere Zivilisten dem Haupteingang der Kammerspiele.
    »Wir kommen vom Arbeitsamt und sollen in der Küche helfen«, sagte Freund Schusch zu dem Zerberus, der sich ihm in den Weg stellte.
    Da die drei in normal-ärmlichen Mänteln steckten, nicht geschminkt waren, weder abenteuerliche Kopfbedeckung noch ausgefallene Beinkleider trugen, ahnte der Türhüter keine List. Schuschs Einfall, mit dumpf-devotem Blick vorgetragen, erschien ihm glaubwürdig. Er sagte den Dreien, wohin sie sich wenden müßten und ließ sie ein. Sie wandten sich zur nächsten Garderobe, vervollständigten ihre Kostüme und tauchten ein ins Meer der Sinnenfreude.
    Wie der vermeintliche Küchenhelfer mir Jahre später sagte, haben wir beide in wenigstens einer dieser Nächte unentgeltlich zur Stimmung beigetragen. Wenn die Kapelle Pause machte, soll er zur Gitarre und ich zum Akkordeon gegriffen haben.
    War das so gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern, das sperrige Instrument durchs Klofenster gehievt zu haben. Hatte ich es schon vorher ins Theater gebracht? Plötzlich ein Erinnerungsschub. Ich sah ihn sitzen, auf der Bühne mit der Gitarre. Nicht aber mich bei ihm, nur die Fische über den Köpfen.
    Auch andere haben Aussetzer. Fällt das Stichwort Traumkulisse, verklären sich noch heute die Blicke, kommen Freunde und Bekannte ins Schwärmen. Das erste Fest sei das tollste überhaupt gewesen. An Einzelheiten aber erinnert sich niemand mehr. Bei anderen Festen ja, da wissen sie noch, was sie angehabt, mit wem sie geflirtet haben.
    Was war denn dann so einmalig?
    Normalerweise spiegelt sich Glückseligkeit im Partner wieder, mit dem und durch den man sie erlebt. Schließlich werden Erinnerungen über Emotionen gespeichert. Offenbar befanden wir uns alle in Trance, von Rhythmus gepeitscht, von tausenderlei Eindrücken und Wonnen viel zu überwältigt, um noch Details unterscheiden zu können — ein wahrhaft heidnisches Fest.
    Solcher Voodoo-Fasching kam nicht von ungefähr. Hier wurde im Kollektiv mehr Vergangenheit bewältigt als in politischen Schulungskursen, in Psychoanalysen und anderen Bewußtmachungsprozessen. Auf der Traumkulisse haben wir wohl den Krieg offiziell hinausgetanzt.
    Einige Lichtstrahlen durchdringen die blockierte Erinnerung. Meinem Nachholbedarf an Jazz, dem lange verbotenen Ausdruck unseres Lebensgefühls zufolge, kletterte ich auf das Musikpodest, um mit der Kapelle zu singen, laut und schräg, in Bebop, der Jazzsprache, die mit Phantasiesilben und kindlichen Wortgebilden Elementares artikuliert.
    Wo immer damals eine Kapelle spielte, ein Bartrio oder ein Pianist, war ich von Gesang nicht abzuhalten. Anscheinend brauchte ich das zu meiner Selbstverwirklichung — wie man heute sagen würde. Damals sagte man: Der spinnt.
    Ein Chorus

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