Frösche, die quaken, töten nicht: Roman (German Edition)
tropfte er herab auf den voluminösen Bauch, den der Pullunder umspannte. Ungeschickt
zog der Kellner immer wieder an der Kleidung des Leblosen, um den Körper in dieser
Haltung auszupendeln. Der kraftlos zur Seite geneigte Kopf wies genau in Livs Richtung
und starrte sie an. Sie stand noch immer startbereit und starrte zurück. Durch ihre
Augen sah sie diese Realität noch immer wie in einem Film in Zeitlupe ablaufen.
›Absurd‹,
dachte sie erneut und bemerkte ihre Kaltblütigkeit.
Kein Arzt
meldete sich. Ein Gast nach dem anderen verließ den Raum, die meisten ließen ihren
Frühstücksrest auf dem Teller liegen. Ein Gast wickelte ein Brötchen in eine Serviette
und steckte es in die Tasche seines Jacketts. Die Frau im weißen Trainingsanzug
nahm sich noch zwei Bananen und einen Apfel und reihte sich in die Flüchtenden ein.
Zwischen den dunklen Anzuggestalten fiel sie auf wie ein Schneehase, der sich zu
früh verfärbt hatte. Kurz vor der Tür wandte sie sich noch einmal um, hielt inne
und schaute Liv eine Weile eindringlich an.
Von dieser
Heldenschar war keine freiwillige Hilfe zu erwarten. Als auch der Kellner die Situation
erfasst hatte, ließ er los und rannte wieder hinaus. Liv blieb mit dem Toten allein
im Raum. Schritt für Schritt näherte sie sich ihm. In einer absurden Neigung, die
einem eleganten Diener glich, beugte sich der Oberkörper samt Kopf sehr langsam,
aber zielgerichtet nach vorn und landete mit dem Gesicht wieder in dem Teller. Der
restliche Brei platschte über den Rand auf die weiße Tischdecke.
Das war
zu viel, sogar für Liv. Einem kurzen hysterischen Aufschrei folgte ein nicht enden
wollender Lachanfall. Während sie sich den Mund mit der flachen Hand zuhielt, rannte
sie die letzten Schritte zu ihrem einzigen Gegenüber hin.
Im Laufe
der Tätigkeit als Kriminalreporterin hatte Liv ihren eigenen Umgang mit dem Tod
entwickelt. Das resultierte aus der jahrelangen Praxis. Sie versuchte, sich nichts
aus ihm zu machen und ihn objektiv anzugehen. ›Jeder von uns ist einmal dran. Warum
sollte denn so etwas Fürchterliches im Tod wohnen?‹ Das Bild, das sie für sich geschaffen
hatte, war angelehnt an das untheatralische Verhalten der Tiere. In diesem Moment
jedoch geriet Livs Bild aus den Fugen. Dieses Szenarium war etwas zu direkt, die
Atmosphäre zu persönlich in dieser ungewollten, sie bedrängenden Zweisamkeit.
Liv zerrte
mit beiden Händen an dem bereits überdehnten Pullunder des Mannes, zog ihn hoch
und versuchte, ihn einhändig in der Aufrechten auszutarieren. Mit der anderen Hand
wischte sie sich die Tränen ab. Ihre Schultern bebten vor Lachen. Der Kellner kam
zurück. Als er Liv so sah, ließ auch er seinen Gefühlen freien Lauf und weinte mit.
»Sie kannten
unseren Chef?«, fragte er mit zitternder Stimme und verzerrten Gesichtszügen. »Es
ging so schnell …«
Minuten
verbrachten er und Liv dort gemeinsam in einem großen Irrtum, bis die Erlösung nahte.
2
Herein kam ein ernst blickender
Mann in Anzug und Krawatte, mit einer schwarzen Arzttasche, offensichtlich ein Hotelgast,
den man aus einer Tagung herausgeholt hatte. »Ich bin Arzt. Was ist passiert?« Endlich
konnte Liv den Pullunder loslassen, sich zurückziehen und beruhigen. Der Kellner
holte ein Stofftaschentuch aus seinem Jackett, schnäuzte trompetend hinein und steckte
es wieder weg. »Es war alles gut, dann lag er plötzlich da auf dem Tisch.«
Der Arzt
ertastete mit seinen Fingerspitzen die Halsschlagader des Leblosen, um den Puls
zu prüfen. Erfolglos. Er versuchte es danach an den Handgelenken. Als er die Pupillen
des Mannes beleuchten wollte, glitschte er zuerst an den müsliverschmierten Lidern
ab. Erst nachdem er sie mit einer Serviette vom Nebentisch gereinigt hatte, gelang
es ihm. Doch auch der Test mit der Taschenlampe schien nur eine Diagnose zuzulassen.
Dennoch holte er sein Stethoskop aus der Tasche und suchte den Herzschlag des Mannes.
Vergebens. Er diagnostizierte treffsicher: »Der Mann ist tot. Wir können nichts
mehr für ihn tun. Verständigen Sie die Polizei. Die sollen alles Weitere veranlassen.«
»Nein! Das
ist unser Seniorchef!«, stotterte der Kellner erschrocken, als würde er sich jetzt
erst der Endgültigkeit bewusst. Er wendete sich dem Arzt zu, beide Fäuste vergruben
sich im Revers seines Anzuges. Dem offenen Blick des Arztes ausweichend, fielen
seine Hände kraftlos wieder herab, er starrte gedankenverloren auf den Boden.
»Warum ich
…?«, flüsterte er und sah
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