Frösche: Roman (German Edition)
nachvollziehbar.
»Wie soll das angehen, dass die große Schwester schon achtzehn ist, aber der kleine Bruder noch gestillt wird?« Meine Mutter hat auf solche Fragen immer geantwortet: »In früheren Zeiten passierte es öfters, dass Schwiegermutter und Schwiegertochter zu ein und derselben Zeit das Wochenbett hüteten.«
Trotzdem ist es aber gerade heute wieder wahrscheinlich und möglich geworden. Eine Kommilitonin meiner Tochter hat kürzlich eine kleine Schwester bekommen. Ihr Vater besitzt eine Kohlemine und bergeweise Geld. Die Bauern rackern sich als Bergmänner unter Todesgefahr in seiner Grube für ihn ab. Er wohnt in Peking und hat auch in Shanghai, Los Angeles, San Francisco, Melbourne und Toronto Nobelvillen, in denen er mit seinen Zweit- und Drittfrauen Kinder in die Welt setzt. – Ich merke, ich muss mich am Riemen reißen, damit ich nicht abschweife.
Ich erinnere mich wieder an unser Herdgottfest damals. Ich gab gerade eine Portion Teigtäschchen in den Wok mit sprudelndem Wasser, meine Tochter Yanyan klatschte in ihre Händchen und sang:
Eine Schar dicker weißer Gänschen
hopsen mit Gespritz in den Fluss,
und wenn die Flut
dreimal gestiegen ist,
strecken sie die Schwänzchen
lustig in die Höh’.
Kleiner Löwe stand mit der brabbelnden Augenbraue auf dem Arm daneben.
Da kam Chen Nase in seiner schweinsledernen Jacke, eine Schirmmütze mit zwei Ohrenklappen auf dem Kopf, quer über die Straße angelaufen und zu uns ins Haus. Die kleine Ohr folgte ihm, eine Hand fest an seinem Jackenzipfel. Sie trug eine wattierte Jacke, aus der sie schon herausgewachsen war. Aus den viel zu kurzen Ärmeln lugten ihre vor Kälte roten Hände hervor. Ihr Haar stand wirr vom Kopf ab, die Nase lief, wahrscheinlich hatte sie eine Erkältung.
»Ihr kommt gerade richtig.« Ich wendete die Teigtäschchen. »Setzt euch, wir essen zusammen Teigtäschchen.«
Chen Nase ließ sich auf unserer Türschwelle nieder. Der Feuerschein leuchtete flackernd auf seinem Gesicht, seine Riesennase sah aus wie aus einem Stück gefrorenem Rettich geschnitzt.
Ohr stand neben ihm, eine Hand auf seiner Schulter, und schaute mit großen Augen ängstlich umher. Neugierig beäugte sie abwechselnd die schwimmenden Teigtäschchen im Wok, Shizi mit dem Baby auf dem Arm und Yanyan, deren Blick sie einlud, mit ihr zu plaudern. Yanyan gab ihr ein Stück Schokolade ab. Ohr legte den Kopf schief und sah ihren Vater forschend an, um dann zu uns aufzuschauen.
»Nimm es ruhig! Wenn Yanyan es dir gibt, dann nimm es«, forderte ich sie auf.
Sie streckte zaghaft ein Händchen aus.
Nase herrschte sie scharf an: »Chen Ohr!«
Erschrocken zog sie die Hand wieder zurück und fing an zu weinen.
»Nase, nicht doch! Sie ist ein Kind!«
Ich ging ins Schlafzimmer und holte einen Riegel Schokolade, den ich Ohr in die Tasche ihrer wattierten Jacke steckte.
Nase stand auf und sagte zu Shizi: »Gib mir mein Kind.«
Sie schaute ihn ungläubig an: »War es nicht so, dass du sie gar nicht wolltest?«
»Wer erdreistet sich zu sagen, ich will mein Kind nicht?« Er fing vor Wut an zu keuchen. »Es ist mein eigen Fleisch und Blut! Wie könnte ich es nicht wollen?«
»Der Spruch passt nicht zu dir! Als sie geboren wurde, war sie wie ein krankes Kätzchen. Ich habe sie gepflegt, so dass sie überlebte.«
»Ihr habt Galle auf dem Fluss gejagt. Deswegen hatte sie eine Frühgeburt«, entgegnete Nase. »Sie wäre nicht gestorben, wenn ihr uns nicht gejagt hättet. Ihr steht bei mir mit einem Leben in der Schuld!«
»Völliger Schwachsinn!«, konterte Kleiner Löwe. »So wie Galle gebaut war, durfte sie eigentlich gar nicht schwanger werden. Du denkst doch an nichts anderes als an einen Stammhalter. Ihr Leben ist dir immer ziemlich egal gewesen. Galle ist durch deine Hand gestorben.«
»Das sagst ausgerechnet du?« Nase fing an zu brüllen. »Das sagst du nicht ungestraft. Ihr werdet jedenfalls kein Neujahrsfest mehr haben!«
Nase griff sich neben dem Herd einen Knoblauchstößel und zielte damit auf unsern Wok.
»Nase!«, rief ich. »Hast du sie noch alle? Wir sind von klein auf immer beste Freunde gewesen.«
»Wo gibt’s schon Freunde in der heutigen Zeit? Als Galle sich bei deinem Schwiegervater verstecken musste, hast du sie wahrscheinlich bei deiner Tante verpfiffen?«
»Das hat mit ihm nichts zu tun«, warf Kleiner Löwe sofort ein. »Das hat Xiao Oberlippe uns verraten.«
»Mir ist scheißegal, wer wen verraten hat. Du gibst mir heute mein Kind
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