Frösche: Roman (German Edition)
zügellos ausschweifend!
Ich konnte nichts dafür, dass ich mich unversehens meiner Kinderzeit erinnerte; hatte ich doch damals mit eigenen Augen dabei zugesehen, wie die Roten Garden unserer ersten Kreismittelschule, und zwar die Einsatzgruppe zur Durchsetzung der Kampagne Die Vier Alten zerschlagen und die Vier Neuen aufbauen , den Niangniang-Tempel und die Gottheiten darin brutal zerstörten. Die Jungen und Mädchen aus den Reihen dieser Einsatztruppe der Roten Garden zerrten die Kinder schenkende Himmelsmuttergöttin Niangniang aus dem Tempel und warfen sie in den Fluss. Dann riefen sie Parolen wie:
Geburtenplanung, die ist gut,
mal sehen ob Niangniang schwimmen tut!
Die alten Weiber aus unserem Dorf, alle mit schlohweißen Haaren, knieten in Reih und Glied am Ufer und flüsterten Gebete. Ob sie darum beteten, dass die Göttin diese unverschämten Kinder bestrafte? Oder dass sie der Menschheit ihre wüsten Beleidigungen vergeben sollte? Ich habe es nicht erfahren. Ein Sprichwort bei uns sagt:
Auf dreißig Jahre ostwärts folgen dreißig Jahre westwärts, so ändert der Gelbe Fluss seinen Lauf beständig.
An der gleichen Stelle, an der einst der alte Tempel gestanden hatte, wurde der neue errichtet, noch imposanter als der ursprüngliche. In der großen Tempelhalle schimmerte wieder golden die Statue der Göttin. Man trug unsere alten Traditionen weiter, und gleichzeitig kamen neue Moden auf: So wurde man einerseits den spirituellen Bedürfnissen der Volksmassen gerecht und weckte andererseits sogar das Interesse der Touristen aus aller Welt. Die Gegenüberstellung von Kosten und Nutzen ergab eine positive Bilanz. Es scheint in China tatsächlich zu stimmen, dass sich der Bau eines Tempels mehr rentiert als der einer Fabrik. Meine alten Nachbarn und Freunde leben alle für diesen Tempel und von diesem Tempel.
Ich schaute zur Skulptur der Göttin Niangniang auf. Sie hatte ein Antlitz wie der Vollmond und sturmwolkenschwarzes Haar, schmale Augenbrauen, die seitlich fast bis zum Haaransatz reichten, dazu einen gütigen Blick. Sie war mit einem langen weißen Gewand bekleidet, um den Hals trug sie eine Key¯ura, ein Collier aus Edelstein- und Perlenketten, wie der Buddha es trägt. In der Rechten hielt sie einen langstieligen Palmblattfächer, der mit der Oberkante ihre Schulter berührte, mit der Linken streichelte sie den Kopf eines auf einem Fisch reitenden Bübchens. Links und rechts von ihr drängten sich zwölf Knaben in verschiedenen Posen. Sie hatten lebendige Gesichtszüge, sprühten im ausgelassenen Spiel vor Lebenslust, dass es eine Freude war, sie anzuschauen.
Ich dachte bei mir, dass bei uns in Nordost-Gaomi nur zwei Künstler in der Lage waren, solche Knabenskulpturen zu erschaffen, und das waren Hao Große Hand und Qin Strom. Wenn man Wang Leber Glauben schenken konnte, dann entsprachen diese Skulpturen eher dem Stil von Qin Strom. Denn beim Anschauen, und dieser Gedanke kam mir wie ein Verbrechen vor, fielen mir unwillkürlich die Gesichtszüge meiner Tante ein. Gestalt und Gesicht der Niangniang im weißen Gewand glichen denen meiner Tante in jungen Jahren.
Vor der Statue knieten auf den Gebetskissen neun Frauen. Sie knieten lange und regungslos, ohne aufzustehen, machten wieder und wieder Kotau, die Hände zur Niangniang aufschauend, betend erhoben, in stille Gebete versunken.
Auch der Marmorboden hinter den Gebetskissen war mit knienden Frauen besetzt. Die Frauen auf den Gebetskissen und auch die auf dem Boden knienden hatten alle ihr Tonkind vor sich gestellt, damit die Niangniang es sehen konnte.
Auch Kleiner Löwe kniete am Boden. Sie beugte ihr Haupt zum Kotau, mit aufrichtigem Respekt; wenn ihr Kopf den Boden berührte, hörte man den Schädel auf den Boden pochen. Ihre Augen waren voller Tränen; denn wie liebte sie die Kinder!
Aber ich wusste, dass ihr Wunschtraum, ein Kind zu gebären, unerfüllbar blieb. Im Jahr 1950 geboren, war sie, als wir den Niangniang-Tempel besuchten, 55 Jahre alt. Obwohl ihre Brüste noch üppig waren, war ihre Regelblutung damals bereits versiegt.
Während ich damit beschäftigt war, mir die betenden Leute anzuschauen, gab es bestimmt auch solche, die mich beobachteten. Ich tat es meiner Frau nach und kniete neben ihr vor der Göttin Niangniang nieder. Wer uns betrachtete, mochte denken, dass wir als älteres Ehepaar das Tonkind für unsere Kinder geholt hätten und an deren Stelle um Kindersegen baten.
Waren die Frauen mit ihrem Gebet zu Ende,
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