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Frösche: Roman (German Edition)

Frösche: Roman (German Edition)

Titel: Frösche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Schnurbaum und murmelte unhörbar Verse. Ihr weiß meliertes Haar stand dicht wie Katzenschweifkraut und war übersät von Schnurbaumblüten. Bienen summten über ihrem Kopf. Vor dem Fenster saß Hao Große Hand auf einem niedrigen Schemel vor einer dort montierten Kalksandsteinplatte. Der »Großmeister der volkstümlichen Tonkunst«, diesen Titel hatte ihm der Kreis verliehen, war gerade damit beschäftigt, seine Erde zu bearbeiten. Sein Blick war unscharf und ging ins Leere, er wirkte wie in Trance.
    Gugu sprach: »Der Vater dieses Kindes hat ein rundes Gesicht, lange schmale Augen, einen tiefen Nasenrücken, wulstige Lippen, fleischige Ohren, seine Mutter hat ein wunderschön ovales Gesicht, Mandelaugen, doppelte Lidfalten, einen kleinen Mund, eine steile Nase mit hohem Nasenrücken, dünnfleischige Ohren, angewachsene Ohrläppchen. Das Kind kommt nach seiner Mutter, aber der Mund ist größer als der ihre, die Lippen sind voller, die Ohren etwas größer, der Nasenrücken ist eine Spur niedriger ...«
    Wir sahen zu, wie unter Haos Händen langsam ein Tonkind entstand, während Gugu im Singsang die Beschreibung des Kindes vorgab. Er nahm einen spitzen Bambusstab und erweckte die Augen des Kindes zum Leben, indem er ihm Pupillen stach. Dann prüfte er das Ergebnis einen Augenblick, machte ein paar kleine Änderungen, stellte das Tonkind auf ein Brett und trug es zu Gugu.
    Gugu nahm es hoch und schaute es einmal an: »Die Augen noch ein wenig größer und die Lippen ein wenig voller.«
    Große Hand nahm das Tonkind wieder an sich, machte die Änderungen und gab es ihr wieder zurück. Sein Blick unter den grauen buschigen Brauen traf uns wie ein Blitz.
    Gugu hielt das Niwawa-Tonkind vor sich, schaute von fern, von nah, dann ließ sie einen zunehmend wohlwollendem Blick auf dem Kind ruhen. »Richtig, genau so stimmt es. Das ist er.«
    Plötzlich änderte sich ihr Tonfall und sie sagte in scharfem Ton zu dem Kind: »Genau, das bist du, du kleiner Dämon, du Schuldeneintreiber, der den Fuß zuerst herausgestreckt hat. Von den zweitausendachthundert Kindern, die ich zu Tode gebracht habe, hast du noch gefehlt. Jetzt haben wir dich auch gemacht und es fehlt keines mehr.«
    Ich stellte eine Flasche Wuliangye auf die Fensterbank, Kleiner Löwe legte ein Päckchen mit Bonbons vor Gugus Füße. »Gugu, wir sind dich besuchen gekommen.«
    Gugu war etwas verstört, sie fuchtelte mit Händen und Füßen, als täte sie etwas Verbotenes. Sie versuchte, das Tonkind unter ihrem Hemd zu verstecken, aber es war zu groß. Also hörte sie auf, es zu verstecken: »Ich will es euch gar nicht verheimlichen.«
    Ich antwortete: »Gugu wir haben uns den Dokumentarfilm angesehen, den Leber uns geschenkt hat. Wir können das gut verstehen, und wir wissen, wir dir zumute ist.«
    »Wenn ihr im Bilde seid, ist es ja gut«, gab sie zurück, dabei stand sie auf und ging mit dem gerade fertig gewordenen Tonkind auf dem Arm zum östlichen Seitenhaus.
    Mit bedrückter Stimme forderte sie uns auf: »Kommt mit!« und ging voraus, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
    Ihr massiger, schwarz gekleideter Körper zog uns in den Bann. Wir hatten Vater schon vor einiger Zeit erzählen hören, dass es bei Gugu im Oberstübchen nicht mehr ganz stimme. Deswegen hatten wir sie auch nur selten besucht, seit wir nach Hause zurückgezogen waren.
    Wenn ich an den Einfluss und das Ansehen meiner Tante in früheren Zeiten dachte und sie jetzt in ihrem wüsten Zustand sah, wurde ich sofort furchtbar traurig.
    Im Osthaus waren die Lichtverhältnisse schlecht. Es war schummrig und ein feuchtkalter Luftzug schlug uns entgegen. Gugu zog an der Schnur an der Wand, und eine Einhundert-Watt-Glühbirne erleuchtete das Seitenhaus bis in den letzten Winkel. Die Fenster der drei Zimmer im rechten Seitenhaus waren mit Backsteinen zugemauert, alle drei Wände von Holzregalen mit vielen gleich großen Kassettenfächern verdeckt, in denen jeweils, wie in kleinen Heiligennischen, eine Niwawa-Tonpuppe stand.
    Gugu stellte die Niwawa in ihrer Hand in das letzte freie Kassettenfach. Dann trat sie einen Schritt zurück. Im Zentrum des Zimmers befand sich ein kleiner Altar mit einem Weihrauchbrenner.
    Sie entzündete drei Räucherstäbchen, kniete vor dem Altar, beide Handflächen zum Gebet zusammengelegt, und murmelte stille Verse.
    Wir taten es der Tante sofort gleich und knieten auch nieder. Ich wusste nicht, was und wie ich beten sollte, die vielen hundert verschiedenen Babygesichter der

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