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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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behandschuhten Hände und zog ihren Turban aus blauem Wolljersey über die Ohren. Das Gras war trocken, die Bäume waren kahl. Wo war Mutti? Warum kam sie nicht heraus, um sie zu begrüßen? Die Trennung von ihrer Mutter erschien ihr genauso lang und schwer zu ertragen, wie das ganze Leben, das sie weg von Papa verbracht hatte.
    Das Haus war breit und hoch, der dunkelgelbe Putz blätterte an einigen Stellen ab und gab die darunterliegenden Ziegel frei. Die Fenster hatten schokoladebraune Läden, die an die Wand geklappt waren, und in der Mitte, über der Eingangstür, war ein breiter Balkon aus demselben braunen Holz. Lucy erinnerte sich an den Balkon und die Blumenkästen, in die Tannenreiser gesteckt waren. Papas Arbeitszimmer lag hinter dem Balkon; sie fühlte eine Welle liebevoller Besorgnis … nach so langer Zeit …
    Sie blickte durch eine Lücke in der ungepflegten Zypressenhecke und sah eine zerlumpte Figur in Schwarz. Ein junger Mann rannte im hohen Gras zwischen den grauen Grabsteinen davon – flatter, flatter, weg war er, wie ein großer schwarzer Vogel. Sie nahm ihren Koffer und holte Tante Helga und Jo ein. Tante Helga strich Jo die Locken aus der Stirn und schob sie unter seine gestrickte Mütze. Sie wechselte den Griff, faßte ihn an den Schultern und hielt ihn auf Armeslänge.
    »Ach, wie wird er sich freuen!« sagte sie. »Joachim, endlich! Joachim, das jüngste Kind!«
    Lucy erkannte ihre Tante und war entsetzt. Nur das üppige Haar war so schön wie ehedem. Helgas Gesicht war länger geworden und starr, auf ihrer Stirn waren tiefe Falten. Sie war blaß, sogar ihre Lippen waren blaß. Lucy stellte fest, daß sie nicht geschminkt war, sie hatte ein nacktes Gesicht, als ob sie gerade aufgestanden wäre, aber sie hatte sich ein bißchen fein gemacht in einem blauen Wollkleid und tropfenförmigen, silbernen Ohrringen. Lucy selbst war über einer make-up Grundierung gepudert und hatte sich die Lippen mit ihrem neuen, pfefferminzrosa Lippenstift geschminkt. Tante Helga wandte sich um, starrte, schürzte die Lippen und betrachtete ihre Nichte mit einem Seufzer von Kopf bis Fuß.
    »Also, Luisa …«
    Sie umarmte sie flüchtig.
    »Lauf zu!«
    Mit dem Besen weisend trat sie zurück, und sie schleppten ihre Koffer ins Haus. Da stand Mutti im dunklen, zu engen Flur neben der bulgarischen Scheußlichkeit und weinte. Jo warf sich mit einem Freudenschrei seiner Mutter entgegen.
    »Psst!« sagte Vicki Füller. »Ach meine Lieblinge, meine Lieblinge …«
    Als Lucy sich der Familienumarmung anschloß, erinnerte sie sich endlich daran, wie es gewesen war. Wegen Papa hatten sie den ganzen Tag mucksmäuschenstill sein müssen. Aber was machte das schon aus, jetzt, wo sie Mutti hatten, ihre ganz eigene, so hübsch wie das gemalte Jugendstilmädchen auf dem Spiegel der Garderobe, mädchenhaft und schlank, mit Jos dunklen Augen.
    »Wo ist Papa?« rief Jo und wand sich aus seinem Mantel. »Ist er im Arbeitszimmer? Ich muß nach oben gehen!«
    »Psst!« sagte Tante Helga, als sie hereinkam. »Du dar fst leise nach oben gehen.«
    Sie lachte.
    »Armer August, daß ein so großer Junge ins Zimmer platzt!«
    »Geh schon«, sagte Mutti leise, »geh schon Jo! Weißt Du den Weg?«
    Jo stürmte die Treppe hinauf, und Lucy wollte ihm folgen, aber Tante Helga ergriff sie am Handgelenk.
    »Laß ihn gehen«, sagte sie. »Laß ihn zuerst gehen. Du mußt dein Gesicht waschen, Luisa. Dein Vater mag keine Schminke.«
    Lucy schüttelte die Hand ihrer Tante ab. Sie sah, daß ihre Mutter nicht geschminkt war. Sie wußte auch, daß Mutti keine Hilfe sein würde. In bestimmten Situationen war sie es nie gewesen.
    »Nun kommen schon!« sagte Helga. »Du siehst aus wie ein Flittchen, das den Amerikanern nachläuft.«
    Mutti sagte mit schockierter Stimme:
    »Helga!«
    Lucy lief leichtfüßig die Treppe hinauf, ohne zu den beiden Frauen zurückzublicken. Die Tür des Arbeitszimmers war angelehnt, sie ging hinein.
    Jo war dicht vor dem riesigen Schreibtisch, an dem sein Vater saß, stehengeblieben. Lucy sah, daß Papa sich überhaupt nicht verändert hatte. Er sah genauso aus wie sein Foto auf den Schutzumschlägen der Bücher: dickes weißes Haar, weiß seit seinem vierzigsten Lebensjahr, ein breites, sanftes Gesicht. Er beendete seinen Satz und blickte auf, schüchtern und charmant.
    »Nun, seid ihr also da?« sagte er.
    Er streckte auf jeder Seite des Stuhles einen Arm aus. ]o rannte um den Schreibtisch herum und wurde eingefangen, aber Lucy

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