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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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deshalb hatten sie überhaupt ins Exil gehen müssen.
    Noch mehr Beziehungen. Papa hatte sich dafür entschieden zu bleiben, wie er in Brief Nummer vier, aufgegeben in Lissabon im Dezember 1939, erklärte. Er müsse im deutschen Sprachraum bleiben. Die Nazis hatten ihn nach einer symbolischen Verhaftung ‘41 in Ruhe gelassen; er hatte seinen kleinen Schlupfwinkel in Schleswig-Holstein, wo er schrieb, aber nichts veröffentlichte und darauf wartete, daß der liberale Geist wiedergeboren würde.
    »Ich erinnere mich an einen tollen Ort«, sagte Jo, »den Dachboden. Wir hatten dort unsere Geheimbutze. Wir haben dort immer mit den Spielzeugtieren und den Puppen eine Weihnachtsfeier gemacht. Es gab eine alte Schneiderpuppe, wie eine Frau geformt, weißt Du noch, ohne Kopf und Arme. Und eine kleine Tür, die mit Tapete beklebt war.«
    »Du liebe Zeit«, sagte Lucy und verdrehte die Augen, »an was du dich alles erinnerst Bruderherz.«
    Lucy erinnerte sich sehr gut an das stickige, nach Staub riechende Spielhaus auf dem Dachboden. Sie hatte sich immer ein wenig vor der Schneiderpuppe gefürchtet.
    Dann waren sie in der Kälte auf dem Rhein-Main gelandet, auf allen Seiten von der Wiedervereinigung von Air Force Männern und ihren Ehefrauen umgeben. Zwei amerikanische Kinder in ihren besten Kleidern … Jo trug Hosen mit Aufschlag und einer ordentlichen Bügelfalte, Lucy einen Faltenrock und Nylonstrümpfe. Sie waren froh über die Mäntel und Stiefel, die in Kalifornien so unsinnig erschienen waren. Sie sahen sich nervös nach ihren ersten deutschen Zivilisten um. Ein großer Mann, ausgezehrt, der einen Dufflecoat mit Knebelverschlüssen aus Holz über einem scheußlichen, fadenscheinigen, blauen Anzug trug, bewegt sich schwungvoll durch die Menge. Er wurde von einem Militärpolizisten befragt, dem er arrogant mit Dokumenten im Gesicht herumwedelte. Lucy dachte, sie müsse sterben.
    »Harald!«
    Er war so alt. Er war so dünn. Sein Deutsch war so schwer zu verstehen.
    »Großer Gott, schaut euch nur die beiden an! Zwei verwöhnte Gören aus Amerika!«
    Er schüttelte ihnen beiden die Hände, schmerzhaft fest.
    »Wo ist Mutti?« fragte Jo. »Wo ist Papa?«
    »Eure Mutter hat ihren Führerschein nicht erneuert«, sagte Harald. »Habt Ihr geglaubt, Papa würde in der Öffentlichkeit erscheinen? Nein, nein, meine Liebe, diese unangenehme Aufgabe muß ich übernehmen.«
    Es war ziemlich unangenehm, wie Lucy zugeben mußte. Sie brauchten eine Stunde, um aus dem Gebäude hinauszukommen. Harald verstaute sie in einer merkwürdigen alten Kiste, einem Opel, und sie wurden über die Autobahn gewirbelt, vorbei an zerstörten Fabriken und Fichtenschonungen, zu der kleinen Stadt Breitbach. Eine lange, hohe Mauer aus rosigem Stein war zu sehen; durch ein eisernes Tor in der Mauer sahen sie Grabsteine und graue Monumente. Der Tag war sehr still, grau und kalt, aber es lag kein Schnee. Da war das Haus, es lag von der Straße zurückgesetzt auf einem langen, schmalen Grundstück.
    »Friedhofstraße«, verkündete Harald seinen schweigenden Fahrgästen. »Cemetery Street.«
    Eine hochgewachsene Frau mit aschblondem Haar fegte den gepflasterten Weg.
    »Eure Tante Helga«, sagte Harald, »Frau Füller Krantz.«
    »Was ist mit Onkel Markus passiert?« fragte Lucy.
    Sie wußte, daß es eine sehr traurige Geschichte war.
    Ihre Tante hatte spät geheiratet; Onkel Markus kehrte aus dem Krieg zurück und starb dann.
    Harald kratzte sich am Kopf.
    »Also, ich sag’s euch, wie es ist«, sagte er. »Ihr werdet in diesem Haus eine Menge blödsinniger Ausflüchte hören, aber nicht von mir, das schwöre ich. Der arme Markus kam aus dem Krieg zurück …«
    »War er ein Nazi?« fragte Jo.
    »Nein, natürlich nicht«, gab Harald ärgerlich zurück. »Er war ein anständiger Kerl, Sohn eines Buchhändlers aus Frankfurt. Er wurde zur Wehrmacht eingezogen. Er hatte das große Glück im Juli ‘45 von der russischen Front heimzukehren. Eine Woche später verübte er Selbstmord.«
    »Im Haus?« flüsterte Lucy.
    »Er hat sich über der Treppe erhängt«, sagte Harald. »Er war krank, erschöpft … Ich weiß es nicht …«
    »War Papa zuhause?« fragte Jo.
    »Nein«, sagte Harald. »Noch immer in seiner kleinen Datscha in den Wiesen im Norden. Helga war gerade dabei, das Haus in Ordnung zu bringen.«
    Sie kämpften sich mit ihren Koffern den Weg hinauf, während Harald zurückblieb und am Auto herumbastelte. Lucy konnte nicht weitergehen; sie rieb ihre

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