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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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Vereinigten Staaten. Zusammen hatten sie über fünfzig Briefe erhalten, natürlich in Deutsch geschrieben, aber in der besser lesbaren englischen Schrift. Vicki bewahrte die Briefe der Kinder sorgfältig für spätere Veröffentlichung auf. Jetzt ging es auf Weihnachten zu, und sie saßen zusammen mit einer Gruppe Ehefrauen von Air Force-Angehörigen im Flugzeug. Sie versuchten, sich gegenseitig ihre verlorene Kindheit im alten Land ins Gedächtnis zurückzurufen.
    »Erinnerst du dich an Weihnachen?« fragte Lucy. »Erinnerst du dich an das Haus zu Weihnachten?«
    Das war etwas, was sie nie vergessen konnte. Weihnacht im Norden, die Kälte, die köstliche Wärme, die Spannung, das Kerzenlicht, das alles hatte sich in ihr Herz eingeprägt.
    »Das ganze Haus roch nach Plätzchen«, sagte Jo. »Im Treppenhaus waren grüne Zweige. Wir durften unten in der Küche Weihnachtsplätzchen ausstechen. Tante Helga saß an der Ecke eines riesigen Tisches, der mit Wachstuch bedeckt war, und mahlte Papas Kaffee von Hand.«
    »Hat sie?« sagte Lucy erstaunt. »Ich erinnere mich, daß der Flur zu schmal war, besonders im Winter mit den Mänteln und Stiefeln. Es gab einen Garderobenständer, den Papa ›die bulgarische Scheußlichkeit‹ nannte. Ich fand ihn eigentlich ganz hübsch, wegen der Dame, die auf den Spiegel gemalt war. Nenne sechs Räume, an die du dich wirklich erinnerst und ordne jedem eine Person zu, an die du dich wirklich erinnerst.«
    »Papa im Arbeitszimmer«, sagte Jo, »das ist leicht. Er ließ mich Bleistifte anspitzen und den Globus drehen. War das Arbeitszimmer oben?«
    »Es war auf dem Treppenabsatz, im Zwischengeschoß. In der Weihnachtszeit hing eine Girlande an der Tür.«
    »Gut. Ich erinnere mich, wie Mutti in dem Raum mit den blauen Vorhängen, in dem sie immer den Baum aufgestellt haben, die kleine silberne Glocke geläutet hat. Ich erinnere mich an Tante Helga, wie sie im Eßzimmer die Gans tranchiert. Jetzt nach oben. Es wird irgendwie undeutlich. He… Harald in einem Schlafzimmer auf der dunklen Seite des Hauses. Ich stand am Fenster und sah hinaus auf eine Gruppe von Leuten in Schwarz, die Blumen trugen. Er sagte: »Es ist eine Beerdigung, jemand wird begraben.« Ich wußte es wirklich nicht.«
    »Ich schlief allein«, sagte Lucy, »weil die arme Roswitha zur Universität gegangen war. Ich hatte das Schlafzimmer ganz für mich allein. Es war gegenüber von dem Schlafzimmer, das du dir mit Harald geteilt hast.«
    Roswitha, ihre Halbschwester, heiratete den ›entarteten‹ Maler Hans Molbe und starb 1940 im Exil in Paris. Harald Füller, ihr Halbbruder, war wegen seiner linken Neigungen im Gefängnis gewesen; jetzt arbeitete er daran, in der amerikanischen Zone eine demokratische Zeitung aufzubauen.
    »Ich erinnere mich an Roswithas Hochzeit«, sagte Jo verlegen. »Ich mußte einen Samtanzug tragen. Verdammt nochmal, die Erinnerung habe ich aber für mich behalten.«
    »Ich erinnere mich an die Hochzeit«, sagte Lucy. »Hans hatte einen Bart und trug eine Fliege. Harald betrank sich am Sekt, sogar Papa könnte ein bißchen blau gewesen sein. Mutti trug mitten am Tag ein langes Kleid, ein Abendkleid. Tante Helga rannte so viel herum, daß sie in einem Korbstuhl unter der Eiche einen Nervenzusammenbruch hatte.«
    Sie erkannte langsam, wie merkwürdig und steif und teutonisch die Hochzeit gewesen war. Die älteren Männer hatten schwarze Fräcke und Zylinder getragen. Wenigstens gab es außer bei der Kapelle keine Uniformen. Harald war unsicheren Fußes auf einen schmiedeeisernen Gartenstuhl gesprungen und beschuldigte seinen Vater bourgeoiser Tendenzen. Papa war mit einem dummen englischen Scherz darüber hinweggegangen: »I represent that remark …«.
    Lucy wurde von einer weiteren Erinnerung an den Hochzeitstag überrascht. Tante Helga ergriff sie am Arm, als sie vor der Tür des Badezimmers im Obergeschoß stand und auf den sonnenüberfluteten Treppenabsatz hinunterblickte. Sie hatte sich von ihrer Ohnmacht erholt und baute sich vor Luisa auf, ihr Haar feucht, ihr Gesicht ungepudert. »Euer Vater ist ein Einfaltspinsel«, flüsterte sie, »ein Einfaltspinsel. Diese Leute, die sich ins Haus drängen …« Welche Leute? Damals hatte Lucy keine Ahnung, aber jetzt wurde ihr klar, daß bei der Hochzeit mehrere unerwünschte Elemente gewesen waren. Künstler, Sozialisten … Mit einem flauen Gefühl im Magen fügte sie, während das Flugzeug an Höhe verlor, die Juden hinzu. Mutti war Halbjüdin,

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