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Frohes Fest!

Frohes Fest!

Titel: Frohes Fest! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke (Hrsg)
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endlich sah ich etwas.
    Ich schaute auf eine weihnachtliche Beleuchtung, auf unschuldige Farben, die mir aus dem Nebel und dem Schnee entgegenstrahlten.
    Aber wieso machten sie mir Angst? Weshalb kam mir dieses friedliche Bild, das so unerreichbar und wundersam durch den Nebel leuchtete, und das meine Kindheit einst so herrlich verklärte, plötzlich wie der Inbegriff unfaßbarer Schrecknisse vor? Die Farben tropften wie Blut in den Nebel hinein und wurden von ihm aufgesogen wie von einer grausigen Watte.
    Das waren nicht die Farben, die ich als Kind geliebt hatte; das konnte nicht das richtige Haus sein. Doch das war es, denn am Fenster stand seine Besitzerin, und der Anblick ihres hageren, lächelnden Gesichts lähmte meinen Geist und meinen Körper.
    Dann erinnerte ich mich: Tante Elise war tot, und in ihrem Testament hatte sie verfügt, daß ihr Haus Schindel für Schindel, Stein für Stein, abgetragen würde.
    »Onkel Jack, wach auf!« bedrängten mich junge Stimmen, obwohl ich, da ich keine Geschwister hatte, strenggenommen niemandes Onkel war. Ich war bloß ein freundliches, älteres Familienmitglied, das in seinem Sessel eingenickt war. Es war Heiliger Abend, und wie üblich hatte ich ein bißchen zu viel getrunken.
    »Wir singen jetzt Weihnachtslieder, Onkel Jack«, sagten die Stimmen. Dann entfernten sie sich.
    Auch ich ging fort. Ich wühlte meinen Mantel aus dem Massengrab im Schlafzimmer, wo er unter vielen anderen Mänteln beerdigt lag. Die anderen saßen im Wohnzimmer und sangen, begleitet von Gitarren. Das Geklimper gefiel mir weitaus besser als die satten, dröhnenden Akkorde, die Tante Elise früher ihrem Kircheninstrument entlockt hatte.
    Ohne mich von jemandem zu verabschieden, schlüpfte ich leise durch die Hintertür nach draußen.
    Obwohl ich mich an kaum etwas erinnere, muß ich nach Grosse Pointe gelaufen sein, zu dem freien Platz, auf dem früher das Haus meiner Tante gestanden hatte. Trotz meines Alters habe ich sonst ein gutes Gedächtnis, doch hier versagte es. Ich muß nach Grosse Pointe gelaufen sein, zu dem leeren Grundstück wo früher das Haus meiner Tante stand. Doch an jenen Heiligen Abend vermag ich mich nicht zu erinnern. Vielleicht, weil der Nebel so dicht war; womöglich war es auch gar nicht neblig, sondern es schneite.
    Aber ich muß nach Grosse Pointe gegangen sein, soviel steht fest. Denn an eins entsinne ich mich: ich gelangte an die große, massive Tür eines Hauses, das gar nicht mehr existierte. Während ich davor stand, öffnete sich die Tür; langsam und schleppend bewegte sie sich, wie die Zeiger einer Uhr, die die einzelnen Abschnitte der Ewigkeit markieren.
    Genauso gemächlich streckte sich eine Hand nach mir aus und legte sich mir auf die Schulter. Ich schaute in ihr Gesicht, und das letzte, woran ich mich erinnere, sind ihr breites Lächeln und die Worte: »Fröhliche Weihnachten, alter Jack!«
    Nie werde ich seinen Gesichtsausdruck vergessen, als ich ihm »Fröhliche Weihnachten« wünschte. Endlich hatte ich ihn bei mir, ihn und seine Gedanken, all die hübschen Bilder in seinem Kopf. Aus dem Nebel tauchten die weinenden Dämonen auf, die unglücklichen, verlorenen Seelen, und nahmen seinen Körper mit. Jetzt war er einer von ihnen, und er weinte wie ein kleines Kind. Doch das, was an ihm das Beste war, gehört jetzt mir. Jetzt besitze ich seine herrlichen Erinnerungen an die schönen Zeiten, die wir miteinander verbracht haben.
    Ich sehe alles wieder vor mir: die Kinder, die Geschenke, die fröhlichen, farbenfrohen Weihnachtsabende, jetzt sind sie für immer mein! Erzähl uns von dieser Zeit, Jack, von den Stunden, die im Grunde nie dir gehört haben. Sie waren immer mein eigen, und jetzt besitze ich sie und kann mit ihnen nach Belieben verfahren – wie mit einem Spielzeug.
    Wie wunderbar ist es, wieder in meinem kleinen Haus zu wohnen. Wie herrlich, in einem Land zu sein, wo die Finsternis den Toten und das Licht den Lebenden gehört. Ein Land, in dem immer Weihnachten ist.
     
    Originaltitel: »The Christmas Eves of Aunt Elise:
    A Tale of Possession in Old Grosse Pointe«
    Copyright © 1982 by Thomas Ligotti
    (erstmals erschienen in »Grimoire« Nr. 3); mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Vega Agentur Luserke, Friolzheim
    Copyright © 1989 der deutschen Übersetzung by
    Wilhelm Heyne Verlag, München
    Aus dem Amerikanischen übersetzt von
    Ingrid Herrmann

 
    John Jakes
     
    Fröhliche Weihnachten – Post-Gutenberg
     
    Er war alt. Oder

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