Fromme Wünsche
verabschiedete sich von Jablonski; mich übersah sie
völlig. Sie wollte in der Eingangshalle auf Albert warten. Pelly stützte
fürsorglich ihren Ellenbogen. Der einzige Mann, der mit ihr auskam. Ich fragte
mich, welches Leben sie wohl vor Onkel Karls Tod geführt haben mochte.
Carroll kam kurz darauf
wieder. Er setzte sich und sah mich ein Weilchen schweigend an. Doch er sprach
nicht über meine Tante. „Würden Sie mir vielleicht sagen, was Sie mit Ihren Fragen
über Corpus Christi und Agnes Paciorek bezwecken?“
Ich wog meine Worte sorgfältig ab. „Die Ajax gehört
auf dem Gebiet der Sach- und Unfallversicherung zu den größten Gesellschaften
in Amerika. Vor einigen Wochen fragte mich ein Mitglied der Geschäftsleitung um
Rat. Der Mann machte sich Gedanken darüber, daß unterderhand durch Erwerb der
Aktienmehrheit die Firma von jemand anderem übernommen werden könnte. Ich
sprach mit Agnes darüber, denn als Maklerin hatte sie ja Einblick in die
einschlägigen Entwicklungen. Am Abend ihres Todes sagte sie dem
Ajax-Mitarbeiter am Telefon, sie erwarte jemanden, der vielleicht Näheres
wisse. Diese Person ist vermutlich die letzte, die sie lebend gesehen hat.
Möglicherweise handelt es sich sogar um den Mörder oder die Mörderin.“
Jetzt kam der schwierige Teil. „Ich habe als
einzigen Hinweis ein paar Notizen von Agnes, die sich einwandfrei auf die
Ajax-Sache beziehen. Unter anderem hatte sie auch >Corpus Christi<
hingekritzelt. Weil ich sonst keine Anhaltspunkte habe, fange ich eben damit
an.“
„Ich kann Ihnen wirklich nicht viel über die
Organisation erzählen“, begann Carroll. „Die Mitglieder legen großen Wert auf
Anonymität. Sie nehmen den Bibelspruch sehr wörtlich, daß man seine guten Werke
im verborgenen tun soll. Sie legen auch Armuts- und Gehorsamsgelübde ab, wie
beim Eintritt in ein Kloster, und jedes Mitgliederzentrum wird von einer Art
Abt geleitet, dem die Mitglieder unterstehen. Im allgemeinen hat ein Priester
dieses Amt inne. Aber auch er ist anonymes Mitglied und übt einen geistlichen
Beruf aus.“
„Wie können sie das Armutsgelübde ablegen? Leben sie
denn in Kommunen oder in Klöstern?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ihr ganzes Geld
bekommt die Organisation - sei es nun das Gehalt, eine Erbschaft,
Kapitalgewinne oder was auch immer. Corpus Christi gibt ihnen davon dann
jeweils soviel, wie sie zur Aufrechterhaltung ihres Lebensstandards brauchen.
Ein Syndikus bekäme zum Beispiel rund hunderttausend Dollar pro Jahr. Man will
nicht, daß die Leute sich fragen, warum der Lebensstandard dieses Mannes so
viel niedriger ist als der seiner Kollegen.“
Pelly kam wieder herein. „Um welche Kollegen geht's
denn?“
„Ich versuche gerade, Miss Warshawski den Aufbau von
Corpus Christi zu erklären. Allerdings bin ich nicht allzu gut informiert.
Wissen Sie vielleicht mehr, Gus?“
„Nur das, was man so hört. Weshalb interessiert Sie
das?“
Ich wiederholte meine Geschichte.
„Ich würde mir diese Notizen gern mal ansehen“,
sagte Pelly. „Vielleicht käme ich dann darauf, woran sie dabei gedacht hat.“
„Ich habe die Notizen nicht dabei. Wenn ich wieder
herkomme, bringe ich sie mit.“
Als ich die Eisenhower-Schnellstraße erreichte, war
es fast halb fünf. Es schneite so heftig wie zuvor, und außerdem war es
inzwischen so dunkel geworden, daß man kaum die Straße erkennen konnte. Die
Autoschlange kroch mit zehn Stundenkilometern dahin. In der Nähe der Ausfahrt
Belmont Avenue überlegte ich, ob ich meinen nächsten Besuch nicht verschieben
sollte. Zwei Furien an einem Nachmittag! Aber je eher ich mit Catherine
Paciorek sprach, desto eher konnte ich sie aus meinem Leben streichen. Da
abseits der Schnellstraßen nicht geräumt wurde, blieb ich auf der Sheridan Road
ein paarmal fast stecken. Kurz nach dem Einbiegen in die Arbor Road ließ mich
mein Auto endgültig im Stich. Ich stieg aus und warf einen nachdenklichen Blick
auf das Gefährt. Die Pacioreks würden mich sicher nicht anschieben.
Den letzten Kilometer stapfte ich hastig durch
tiefen Schnee. Ich nahm den Weg durch die beheizte Garage, klingelte an der
Seitentür und rieb mir Hände und Füße warm, während ich wartete.
Barbara Paciorek, Agnes' jüngste Schwester, machte
auf. Sie war sechs Jahre alt gewesen, als ich sie zum letztenmal gesehen hatte.
Jetzt, im Teenageralter, glich sie der Agnes von damals auf so verblüffende
Weise, daß es mir einen Stich gab. „Vic!“ rief sie. „Sag
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