Fromme Wünsche
geschlafen.“
Ich brachte ihn ins Bett und massierte ihm den Rücken. Als ich das Zimmer
verließ, war er schon eingeschlafen. Ich zog warme Unterwäsche an und mehrere
Sweatshirts übereinander. Dann lief ich zum Lake Shore Drive, um mein Auto zu
holen. Ein kalter Wind blies vom See herüber und drang mir durch Mark und Bein.
Ich brauchte dringend eine neue warme Jacke.
Ob Bobby mich tatsächlich beschatten ließ? Bis zum
Auto war mir niemand gefolgt. Auch im Rückspiegel konnte ich kein wartendes
Fahrzeug erkennen, und bei diesem Wind lief keiner freiwillig auf der Straße
herum. Wahrscheinlich hatte Bobby angegeben - oder er war damit nicht
durchgekommen.
Der Motor sprang nur unter heftigem Protest an. Die
Seitenstraßen versanken fast im Schnee, aber der Lake Shore Drive war geräumt.
Ich konnte ziemlich zügig nach Norden fahren. In Höhe des Montrose Drive
schaltete sich widerwillig die Heizung ein, und nun fror ich nicht mehr und
konnte mich besser auf den Verkehr konzentrieren. Kurz vor sieben bog ich in
die Crawford Avenue ein, und nach wenigen Minuten stand ich vor Onkel Stefans
Haus. Bevor ich aus dem Auto stieg, steckte ich mir die Smith & Wesson in
den Hosenbund. Ich drückte auf den Klingelknopf. Alles blieb still. Eine Minute
später probierte ich es noch einmal. Mit der Möglichkeit, daß er nicht zu Hause
sein könnte, hatte ich nicht gerechnet. Ich drückte auf einige andere
Klingelknöpfe, bis jemand den Türöffner betätigte. In jedem Haus gibt es
einen, der aufmacht und das Gesindel hereinläßt.
Onkel Stefans Wohnung lag im vierten Stock. Auf der
Treppe kam mir eine hübsche junge Frau mit einem Kleinkind im Buggy entgegen.
Sie sah mich neugierig an. „Wollen Sie zu Mr. Herschel? Ich habe schon
überlegt, ob ich bei ihm läuten soll. Ich bin Ruth Silverstein, ich wohne auf
der gleichen Etage. Wenn ich um vier mit Mark an die frische Luft gehe, kommt
er sonst immer raus und gibt ihm Plätzchen. Aber heute nachmittag ist er nicht
gekommen.“
„Er könnte doch weggegangen sein.“
Sie errötete. „Ich bin den ganzen Tag allein mit dem
Kleinen. Vielleicht achte ich deshalb ein bißchen zuviel auf meine Nachbarn.
Ich höre immer, wenn er weggeht - sein Stock macht nämlich ein ganz bestimmtes
Geräusch auf der Treppe.“
„Danke, Mrs. Silverstein.“ Stirnrunzelnd stieg ich
die letzten Stufen hinauf. Onkel Stefan war zwar gesund, doch er war immerhin
zweiundachtzig. Hatte ich das Recht, seine Tür aufzubrechen? War es nicht
sogar meine Pflicht? Was würde Lotty dazu sagen?
Ich trommelte heftig gegen die massive Wohnungstür
und preßte mein Ohr dagegen, hörte aber nichts. Doch - da war ein leises
Gemurmel. Fernseher oder Radio - Mist!
Ich hetzte die Treppe hinunter, klemmte einen
Handschuh in die Eingangstür, lief zum Wagen und holte die Dietriche aus dem
Handschuhfach. Mrs. Silverstein und Mark verschwanden gerade in einem kleinen
Lebensmittelladen an der Straßenecke. Mir verblieben schätzungsweise zehn
Minuten, um die Tür zu öffnen. Der Trick dabei ist, daß man mit Gefühl an die
Sache herangeht. Onkel Stefan hatte zwei Schlösser an seiner Tür: ein
Schnappschloß und eines der üblichen Sicherheitsschlösser. Ich fing mit dem
Schnappschloß an. Als es klickte, bemerkte ich zu meiner Bestürzung, daß es
offen gewesen war. Nun hatte ich die Tür zweifach verriegelt! Ich bemühte mich,
ruhig durchzuatmen, und probierte es in entgegengesetzter Richtung. Als der
Riegel zurückglitt, betrat Mrs. Silverstein das Haus. Der Buggy rumpelte die
Stufen zum vierten Stock herauf. Ein Klicken im zweiten Schloß, und ich war in
der Wohnung.
Ich tastete mich an einem Schirmständer vorbei ins
Wohnzimmer. Im Schein einer Lampe sah ich Onkel Stefan mit dem Oberkörper
quer über dem Schreibtisch liegen. Die grüne Lederbespannung war durch
geronnenes Blut verfärbt. „Mein Gott!“ sagte ich leise. Während ich dem alten
Mann den Puls fühlte, dachte ich nur daran, daß Lotty fuchsteufelswild sein
würde. Als ich das schwache, unregelmäßige Pochen unter meinen Fingern spürte,
glaubte ich an ein Wunder. Ich stürzte aus der Wohnung und hämmerte an die Tür
der Familie Silverstein. Mrs. Silverstein machte sofort auf. Sie war noch im
Mantel, der Kleine im Buggy.
„Schnell, rufen Sie einen Krankenwagen. Er ist
schwer verletzt.“
Sie nickte und hastete ans Telefon, während ich zu
Onkel Stefan zurücklief. Ich holte ein paar Decken, packte ihn ein, ließ ihn
sanft zu Boden gleiten, schob
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