Frostbite
Ausbildung zurück. Sie musste ebenfalls in Bewegung bleiben. Sie
brauchte eine Wand im Rücken. »Es tut mir leid, dass ich deinen Vater
umgebracht habe, aber glaub mir, ich tat mein Möglichstes, um es zu verhindern.
Das solltest du mittlerweile verstehen.«
»Vielleicht verstehe ich es
tatsächlich. Vielleicht sogar besser, als du glaubst.«
Er machte sich nicht die Mühe einer Erwiderung.
Chey spürte seine Nähe, konnte aber nicht bestimmen, wo er stand.
Sie kam auf die Füße und näherte sich der Wand vor ihr.
Seine Körperwärme war in dem Augenblick zu fühlen, als er sie in die
Höhe stemmte und in die Dunkelheit zurückschleuderte. Sie landete unglücklich
auf einem Arm, der von ihrem Körpergewicht gestaucht wurde. Schmerzerfüllt
schrie sie auf.
»Schon alles gesagt?«, wollte er
wissen. Er stand in der Nähe, aber nicht dicht genug für einen Schlag.
»Warum kannst du nicht einfach abhauen und mich in Ruhe lassen? Ich habe das
alles nicht gewollt. Ich wollte bloß den Schlamassel überleben, in den du mich
gebracht hast.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Und es tut
mir leid. Aber du musst es auch einmal von meinem Standpunkt aus
betrachten. Du hast meinen … Vater umgebracht. Ich hatte das Recht … etwas zu
unternehmen. Aber die Umstände haben sich verändert. Ich habe mich verändert.
Und ich weiß inzwischen, dass ich das nicht allein durchziehen kann. Ob es mir nun gefällt oder nicht, im Augenblick
bist du der Einzige, der mich versteht. Der weiß, was ich durchmache. Und diese
Arschlöcher da draußen trachten auch mir nach dem Leben. Wir stehen auf
derselben Seite. Nicht wahr?« Sie kroch durch die Dunkelheit. Vielleicht hatte
er sie dieses Mal endlich verstanden. Hatte begriffen, dass sie nicht zum
Kämpfen gekommen war.
Aber da traf er sie hart, hart genug, um sie hochzureißen und
brüllend über den Boden zu schleifen. Sie krachten gegen eine Wand und brachen
durch. Das Wellblech hielt ihrem Gewicht nicht stand, und Chey sah Sterne,
echte Sterne, als sie über den Parkplatz schlitterten. Ihre Schulter gab mit
einem leicht knallenden Geräusch nach – falls sie nicht gebrochen war,
schmerzte sie dennoch teuflisch. Powell stieß sie von sich und stolperte in die
Nacht hinein. Sie wusste, dass er noch nicht mit ihr fertig war.
54 Vor Schmerzen krümmte sich Chey innerlich zusammen.
Fast hätte sie laut geschrien. Aber sie kämpfte den Drang nieder, stieß
ihn von sich und stand auf. Ohne die Kraft, die ihre Wölfin mit ihr teilte,
wäre sie bereits bewusstlos gewesen, vielleicht sogar schon tot.
Sie drehte sich im Kreis, hielt nach Powell Ausschau. Nach jedem
Anzeichen einer Bewegung – einem Aufblitzen in der Dunkelheit, einem
matten Schimmern. Sie sah nichts.
»Sag etwas!«, forderte er. »Du wolltest mit mir reden. Schön. Dann
rede!«
Aber ihr fiel nichts ein. Also betrachtete sie stattdessen Port
Radium.
Die Stadt lag unter ihr,
ausgebreitet am Fuß eines langen gewellten Bergs. Die wenigen noch stehenden
Gebäude wiesen eingestürzte Dächer auf oder waren einfach in sich
zusammengefallen. Einst hatte es Dutzende, vielleicht sogar hundert Hangars und
Lagerhäuser und Gott weiß was noch für Gebäude gegeben, aber die überwiegende
Mehrzahl der Häuser war niedergebrannt worden. Die Straßen hatten es
überstanden und teilten das Land mit langen dunklen Schleifen in Parzellen auf.
An jeder Kreuzung und Abbiegung hatte man lange Pfähle in die Erde gerammt.
Chey wusste, wozu sie gedacht waren. Wenn der Schnee kam – und so weit im Norden geschah das sehr
früh –, boten diese Stangen die einzige Möglichkeit, um die Grenze eines
Grundstücks zu markieren. An einigen Stellen standen auch Straßenlaternen, aber
die Metallmasten waren in den Boden gesunken und hatten sich gesenkt, weil sich
der Permafrost darunter im Lauf der Jahre bewegt hatte. Jetzt standen sie so
schief wie die Bäume im betrunkenen Wald.
Verlassen – nein, mehr als das. Ein Leichentuch lag über der
Stadt. Es war nicht zu sehen, nicht einmal anzufassen, aber hier war ein
schrecklicher Fehler begangen worden. Die Ruinen dünsteten förmlich
Trostlosigkeit und Bedauern aus, das fühlte Chey deutlich. Vielleicht spukte es
dort auch. Eine Geisterstadt, und das in mehr als einer Hinsicht.
Zwischen Chey und dem Rand der Geisterstadt schimmerte der schwarze
Spiegel eines Teichs, eine große ovale Wasserfläche. Aus der Mitte dieses
Teichs erhoben sich verbogenes Metall und Erzabfälle wie ein
Weitere Kostenlose Bücher