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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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funktionierte zweckmäßig. Mit einer Hand
schob sie das Handy in die Tasche zurück, denn es war nutzlos geworden. Hilfe
würde nicht mehr rechtzeitig eintreffen, selbst wenn sie eine brauchbare
Verbindung bekam. Nur sie selbst konnte sich noch retten.
    Ein schwarzköpfiger Prachttaucher
schrie über ihrem Kopf und stieß sich mit langsamen Schwingenschlägen in
die Luft. Chey blickte hoch, als sie ihn hörte. So wie vermutlich auch Powell
den Kopf nach oben wandte. Es war keine großartige Ablenkung, aber sie nahm die
Gelegenheit wahr und drehte sich auf dem gesunden Fuß. Im Winkel von neunzig
Grad zu ihrem ursprünglichen Weg warf sie sich in den Wald. Vielleicht würde er
weiter geradeaus laufen und sie verfehlen.
    Vor ihr sprudelte Wasser über einen
Stein. Auch das war gut. Falls sie das Wasser erreichte, würde ihr Geruch
fortgespült werden. Sie hatte allen Grund zu der Annahme, dass Powell sie
allein aufgrund ihres Geruchs verfolgte. Sie konnte dem Bachverlauf ein paar
Hundert Meter folgen und dann wieder im Wald verschwinden. Das war ein
alter Trick, den Füchse instinktiv benutzten, wenn sie von Hunden verfolgt
wurden, aber vielleicht funktionierte er ja, und sie …
    Powell krachte von hinten gegen Cheys Beine, seine Schulter bohrte
sich in ihr Kreuz und schleuderte sie zu Boden. Sie hatte ihn nicht gehört,
nicht einmal gemerkt, dass er hinter ihr war. Bei der Landung auf dem Boden versuchte sie sich abzurollen und schaffte es
zumindest, mit  angezogenen Beinen
auf den Rücken zu kommen.
    »Schluss jetzt! Hör auf, dich zu
wehren, und ich mache es schmerzlos!«, brüllte Powell sie an. Er klang
etwas außer Atem. Das war alles, was sie erreicht hatte. Das war alles, was
ihre Ausbildung wert gewesen war. Sie hatte den Mistkerl atemlos gemacht.
Wenigstens ein wenig. »Hör zu«, sagte er und wog die Axt in den Händen, »du
verstehst mich nicht. Ich will dich doch bloß beschützen. Dich und andere …
andere Menschen beschützen …«
    Er schien den Satz nicht beenden
zu können. Er hob die Hand und wischte sich mit dem Hemdärmel über den Mund.
Dann sah er zur Seite. »Mist«, sagte er.
    Ein überraschend harmloser Fluch für einen Axtmörder. Aber aus
seinem Mund klang er wie der übelste Ausruf, den er zu kennen schien.
    Unwillkürlich folgte Chey seinem Blick. Was um alles in der Welt
konnte so wichtig sein, dass es ihn von einer Ermordung ablenkte? Da gab es den
Bach und die Lücke zwischen den Bäumen, wo sich der Wasserlauf in mehr als
tausend Jahren seinen Weg gegraben hatte. Tatsächlich waren ein Stück vom
Horizont zu sehen, ein Hügel und der Hauch silbrigen Lichts, das seinen Kamm
schmückte. Das musste der Mond sein. Der Mondaufgang.
    Die Axt fiel Powell aus den Händen
und landete mit einem dumpfen Laut neben Cheys Füßen. Nein – das stimmte
nicht. Sie sah das Werkzeug fallen. Sie sah es durch ihn hindurchfallen, als
hätte er sich plötzlich in Nebel verwandelt und ihm würde die nötige Substanz
fehlen, um sie festzuhalten. Die Axt war einfach durch die Hand
hindurchgefallen. Und Powell veränderte sich weiter. Seine Haut wurde durchsichtig
und glühte wie von Mondstrahlen erhellt. Die Kleidung fiel von ihm ab und
verteilte sich auf dem Waldboden. Chey erkannte die Knochen in seinen Fingern,
Elle und Speiche seines Unterarms. Sie blickte durch ihn hindurch. Er war so substanzlos wie ein Geist geworden.
    Dann explodierte ein silbernes Licht hinter ihren Lidern, und sie
sah nichts mehr.

9   Verwandelt
sich eine Raupe in einen Schmetterling, verpuppt sie sich in einem Kokon, der
gerade groß genug ist, um ihren Körper zu umhüllen. Ein hauchdünner Sarg –
denn auf sehr reale Weise ist ihr klar, dass sie stirbt.
    Ihr Körper löst sich in dem Kokon auf. Abgesehen von wenigen Zellen
verschwindet die Raupe vollständig. Augen, Beine, der pelzige Segmentkörper,
das alles verwandelt sich und erschafft sich
neu. Von Anfang an. Wenn später der Schmetterling aus dem Kokon
hervorschlüpft, hat er nicht die geringste Ähnlichkeit mit der einstigen Raupe.
Er besitzt neue Fähigkeiten und Sinne, die er
sich zuvor nicht einmal vorstellen konnte. Sie erscheinen ihm jedoch
nicht seltsam, weil der Schmetterling keinerlei frühere Erfahrungen hat, um
Vergleiche anzustellen.
    Vom Augenblick des Schlüpfens an kann er fliegen. Er betrauert sein
früheres Leben so wenig wie die stille Zeit dazwischen.
    Als der erste Strahl silbrigen Mondlichts Chey aus der Ferne traf,
geschah etwas ganz

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