Frostbite
schlammiges
und unbewegliches Wasser. Und sie witterte ihn. Ihre Beute. Sie sprang durch eine Gruppe junger Lärchen und hörte die
Schreie von Auerhühnern, die voller Angst vor ihr in die Luft
aufstiegen. Hunger bohrte in ihren Eingeweiden, aber sie verdrängte ihn. Sie
hatte Wichtigeres zu töten.
Die Bäume wichen zurück, und sie
befand sich auf einer hohen Sandbank über einem kleinen See. Die Sonne
ging gerade unter. Die Baumwipfel waren noch immer hellgrün, aber zwischen den
Wurzeln lauerte die Dunkelheit. Das Nordlicht flackerte über der farbenprächtigen Abenddämmerung, hier und da von Wolken
verborgen. Das Bild der Mondsichel schwebte wie ein schmales Auge über der
Seeoberfläche. Die Wölfin schob die Schnauze in den Wind, der die Tasthaare
ihrer Halskrause bewegte, und spürte ein Heulen in sich aufsteigen. Er war in
der Nähe, sogar sehr nahe, ganz nahe, und sie würde ihren Kampf beenden. Die
Vorstellung, dass ihr sein Blut den Rachen hinabrann, gefiel ihr. So wie sich
der imaginäre Laut seiner Knochen, die unter ihrem Angriff brachen, gut
anhörte.
Sie öffnete die Schnauze, um ein schrilles Heulen auszustoßen, einen Schlachtruf. Doch kaum hatte sie
es angestimmt, da warf er sich von der
Seite her auf sie. Sie fuhr herum, um ihm Widerstand zu leisten, aber es
war zu spät – sie hatte seine Schnelligkeit und seine Wildheit
unterschätzt. Er verschwendete keine Zeit mit Finten oder Dominanzposen,
sondern versenkte die gewaltigen Zähne tief im weichen Fleisch ihrer Hüfte. Mit
einem Ruck und einem Ziehen riss er ihre ganze Seite auf. Ihr Blut spritzte auf
den Boden.
Alles wurde schwarz. Sie fühlte, wie sie stürzte, dann war sie weg.
10 Chey
erwachte mit Sand im Mund. Das Haar klebte ihr im Gesicht.
Als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass sie sich noch immer in
dem verrückten Wald befand, wo die Bäume in allen möglichen Richtungen aus dem
Boden aufragten. Allerdings war ihr dieser
Teil des Walds unbekannt. Weder das kleine Haus noch die Lichtung am
Bach oder die große Birke, auf die sie sich gerettet hatte, befanden sich in
der Nähe. Einerseits fühlte sie sich, als hätte sie eine Weile geschlafen, aber
ein anderer Teil von ihr hatte den Eindruck, eben noch bewusstlos gewesen zu
sein. Als wäre keinerlei Zeit vergangen und man hätte sie vorhin einfach von
einem Ort an einen anderen transportiert.
Es gab nur wenige Erinnerungen, obwohl sie eine undeutliche
Vorstellung hatte, was mit ihr passiert war. Sie hatte sich in eine Wölfin
verwandelt.
Oh.
O
Gott.
Sie war genau wie er. Als er ihr Bein zerkratzt hatte – o Gott.
Er hatte sie mit seinem Fluch infiziert.
Der Fluch …
… aber … sie konnte nicht … das
machte sie zu einem …
Ihr Kopf schmerzte so sehr, dass die Gedanken ohne vernünftige Reihenfolge über sie hereinstürzten.
Sie musste sie verdrängen, so verzweifelt sie ihnen auch nachspüren
wollte. Ergründen wollte, was schiefgelaufen war und – viel
wichtiger – wie sie alles wieder in Ordnung bringen konnte. Im Augenblick
standen die Bedürfnisse ihres Körpers an erster Stelle.
Alles schmerzte. Sie fühlte sich schwach und nutzlos. Ihr war
eiskalt.
Zumindest das ergab einen Sinn. Schließlich war sie nackt.
Sie zog die Knie an die Brust und umklammerte sie. Ein starkes
Zittern überlief sie, und ihre Arme bebten so heftig, dass sie sie nicht ruhig
halten konnte. Sie lösten sich, wie eng sie sich auch umschlingen mochte, wie
klein sie sich machen und wie verzweifelt sie ihre Körperwärme bewahren wollte. Und da war noch etwas anderes. Sie war
verletzt, war verletzt worden, bevor sie sich unerwartet in eine Wölfin
verwandelt hatte und nackt vor einem wuchernden Wall aus Farnen aufgewacht war.
Sie war verletzt, oder etwa nicht? Der Wolf hatte … der Wolf …
Sie war mittlerweile auch ein Wolf.
Sie schüttelte den Kopf –
vielleicht stieg ihr das Zittern aber auch nur den Hals hinauf. Aber es
half ein wenig, vertrieb die beängstigenden, hässlichen Gedanken, die von ihr
Besitz ergreifen wollten.
Der Wolf hatte ihren Knöchel
aufgekratzt. Der Knochen war geprellt worden, wenn nicht sogar
gebrochen. Das Herumrennen im Wald musste die Verletzung noch verschlimmert
haben. Vorsichtig tastete sie das Bein ab, konnte aber keine
Druckempfindlichkeit feststellen. Sie schob den Kopf vor und betrachtete den
Knöchel.
Nicht einmal eine Narbe war zu sehen.
O
Gott. O
Gott. Der Wolf … Powell … Die Kreatur hatte … Er hatte sie
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