Frostbite
Ähnliches, nur viel schneller.
Das Silberlicht betörte ihre Sinne. Es blendete sie nicht, sondern
erfüllte sie vielmehr – ein aufblühendes kaltes Licht, das durch alle
Zellen ihres Körpers drang, als bestünden sie aus durchsichtigem Glas. Wie mit
den Augen nahm sie es mit der Haut, dem Herzen und den Knochen wahr –
sogar noch intensiver. Strahlen dieses Lichts
nagelten sie am Boden fest. Zuerst kämpfte sie dagegen an, aber aus der
Abwehr wurde eine sich windende Verwandlung, als ihr Körper seine Gestalt
veränderte. Als sich ihr Wesen verwandelte.
So hatte sie es nicht erwartet.
Weder platzten Haare aus ihrer Haut hervor, noch zogen sich ihre
Kieferknochen in die Länge und bildeten gewaltige Zähne. Ihre Ohren rutschten
auch nicht am Kopf hinauf und bildeten Spitzen. Es gab keinen Zwischenzustand,
keine Hybridkreatur, keinen Augenblick lang.
Sie war eine Frau, und das Silberlicht rauschte durch sie hindurch, und
dann …
Dann war sie eine Wölfin.
Die Transformation war schmerzlos.
Tatsächlich fühlte sie sich sogar gut an. Richtig gut. Wie ein
unglaublich intensiver Orgasmus, der bloß den Bruchteil einer Sekunde lang
andauerte, während sie aber hinterher vor Ekstase zitterte. Und das Gefühl
hatte, dass alles richtig war. Einfach natürlich.
Es fühlte sich an, als zöge sie am Ende eines besonders langen und
mühsamen Tages einen ausgesprochen unbequemen Anzug aus. Es fühlte sich an, als
stünde sie unter einem Wasserfall und das
herabprasselnde Wasser wüsche sämtlichen Schmutz und Schweiß vom Körper.
Es fühlte sich magisch an.
Es fühlte sich nicht an, als sei sie eine Frau, die in eine Wölfin
transformiert wurde. Es fühlte sich an, als sei sie eine Wölfin, die aus einem
langen und langweiligen Traum erwachte, in dem sie gezwungenermaßen im Körper
eines Menschen gelebt hatte. Der Ekel, den sie für jenen Zustand
verspürte – für alles Menschliche –, glich in seiner Intensität nur
der Erleichterung, wieder ihre Wolfsgestalt angenommen zu haben, in ihren
natürlichen Zustand zurückgekehrt zu sein.
Als es vorbei war, öffnete sie die Augen und sah auf ganz neue
Weise. Ihre Augen selbst waren verändert, sowohl in Bezug auf die Form als auch
auf die Funktion. Sie sah Farben, aber weniger, als ein menschliches Auge
erkannt hätte – in dieser Welt gab es weder Rot noch Grün, sondern nur
Schattierungen von Blau und Gelb. Es fiel schwer, Dinge in der Ferne zu
erkennen, während die Kiefernnadeln unmittelbar vor ihr eine übernatürliche
Schärfe annahmen. Wo ihre Sehkraft reduziert war, machten ihr Geruchssinn und
ihr Gehör alles wieder wett. Sie hörte Marder und Spitzmäuse, die unter der
Erdoberfläche wühlten, und auf der anderen Seite des Tals kratzte ein Bär an
einem Baum. Sie roch eine ganze Landschaft aus Tieren und Pflanzen. Allein
anhand der Kraft ihres Dufts vermochte sie zu sagen,
wie weit sie von ihr entfernt waren. Als hätte sie eine Karte im Kopf,
die ihr die Welt ringsum auf eine Entfernung
von mehreren Kilometern zeigte, eine Karte, die ständig aktualisiert
wurde und sie mit mehr Informationen
versorgte, als sie je gebraucht hätte. Verglichen damit war das
Bewusstsein eines menschlichen Wesens
erbärmlich eingeschränkt (obwohl sie diesen Vergleich nicht machte, ja, nicht
im Entferntesten daran dachte). Die Frau war sich eigentlich nur der
Gegenstände bewusst gewesen, die sie sehen konnte, und auch dann mussten
sie sich direkt vor ihr befinden. Die Wölfin war so mühelos und allumfassend
mit der Welt ringsum verknüpft, als blicke sie gleichzeitig mit Hunderten von
Augen von oben auf sie hinab.
Die Gerüche … die Gerüche … alles
roch nach etwas. Jeder Gegenstand auf der Welt hatte einen einzigartigen
Duft, eine olfaktorische Signatur, die zu einem Instinkt oder einer Erinnerung
in ihrem Bewusstsein passte. Dieser Geruch bedeutete Nahrung. Jener Wasser. Ein
dritter bedeutete Kiefernnadeln, und er war überall. Aber das war noch nicht
alles – es gab ganze Geruchsschichten,
die einander überlappten. Über diese Kiefernnadeln war eine
Ameisenkolonne getrampelt. Jene rochen nach
Hasenurin – in der Tat ein besonders aufregender Geruch. Plötzlich
wollte sie mehr. Sie wollte alles erschnuppern, alles auf der Welt, und seine
Geheimnisse erfahren.
Aber ein Geruch dominierte alles andere und hielt sie davon ab, ihre
neuen Fähigkeiten vollständig zu erforschen. Er war wie ein Soloton vor dem
Hintergrund einer großen Symphonie und verlangte
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