Frostbite
Haufen grauer Äste vom Umfang
ihrer Handgelenke hinweg und landete auf der
anderen Seite mitten in einer Ansammlung von Bovisten, die zu gelben
Sporenwolken explodierten. Insgeheim verfluchte sie sich. Jeder gute
Fährtensucher würde die zerstörten Pilze entdecken und wissen, dass sie diesen
Weg eingeschlagen hatte. Und es gab jeden Grund für die Annahme, dass Powell
ein ausgezeichneter Fährtensucher war.
Konnte sie schneller laufen als
er? Sie bezweifelte es. Ihr Bein schmerzte bei jedem Schritt weniger.
Vielleicht pumpte die ungewollte Belastung ja die Flüssigkeiten aus dem
angeschwollenen Gewebe. Trotzdem. Sie hegte nicht mehr den geringsten
Zweifel – diese Augen hatten sie überzeugt. Er war ein Ungeheuer. Er war
schneller als sie – und bedeutend stärker. Und falls sie die Intelligenz
in seinem Blick und die Art und Weise, wie er sie gemustert hatte, nicht falsch
einschätzte, war er auch bedeutend hinterhältiger. Das hatte sie bereits zu
spüren bekommen, nicht wahr? Als Dzo sie zu dem Haus gebracht hatte, war sie
misstrauisch und zu allem bereit gewesen, das hatte sie zumindest angenommen.
Aber Powell hatte sich mühelos hinter ihr anschleichen können.
Chey eilte um eine Gruppe von
Schwarzfichten herum, die so dicht nebeneinander wuchsen, dass sie wie
eine Palisade wirkten. Sie duckte sich hinter diese behelfsmäßige Deckung und
zwang sich, lautlos zu verharren. Nicht allzu geräuschvoll zu atmen. Vielleicht
gab es doch noch einen Ausweg für sie.
Der Augenblick war gekommen, ihr Handy zu benutzen.
Ganz eindeutig. Hilfe würde nicht mehr rechtzeitig eintreffen, aber
sie musste es zumindest versuchen.
Sie zog das Handy aus der Tasche und blickte auf das Display. Kein
Netz, natürlich. Das war nicht neu. Sie öffnete die Akkuabdeckung und legte
einen winzigen Schalter um. Der Schalter war nicht markiert. Tatsächlich war er
sogar so gestaltet, dass er wie eine der Klammern aussah, die die SIM-Karte
festhielten. Ein überaus kluger Techniker hatte diesen Schalter entworfen, der niemandem aufgefallen wäre, selbst wenn man Chey
das Handy abgenommen und genau untersucht hätte. Das Display wurde etwas heller
und übermittelte die Botschaft.
Suchen
nach
Satellitenverbindung
Natürlich war das Handy nicht für diesen Zweck gedacht.
Die kostbare Akkuenergie sollte nicht dafür verschwendet werden, um in einem
Notfall um Hilfe zu rufen. Andererseits … blieb ihr keine andere Wahl.
»Komm schon, komm schon!«, bettelte sie und vergaß, dass sie sich
still verhalten musste. Das Symbol einer winzigen Radarschüssel drehte sich auf
dem Display hin und her. Sie schüttelte das Handy, als wäre das hilfreich.
Die verrostete Axt grub sich mit
einem dumpfen Laut neben ihrem Gesicht in den Baumstamm. Sie erstarrte, zu
keiner Bewegung, zu keinem Gedanken fähig. Der Baum vibrierte unter dem
Aufprall. Ein Käfer erhob sich mit wütendem Summen in die Luft, offensichtlich
von den nachfedernden Zweigen aufgeschreckt.
»Du verstehst das nicht«, sagte Powell und hebelte die Axt grunzend
aus dem Holz. »Es geht nicht anders.«
Chey holte zischend Luft und starrte zu ihm hoch. Er holte noch
einmal mit der Axt aus und machte sich zum nächsten Schlag bereit. Das würde
nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.
Chey war für diesen besonderen Augenblick ausgebildet worden. Sie
stellte sich einen Punkt zehn Zentimeter hinter ihm vor, genau wie man es ihr
beigebracht hatte. Dann legte sie jeden Funken ihrer Kraft in den Schlag auf
diese Stelle – ihre Faust schoss vorwärts, als könne sie durch ihn
hindurchschlagen. Sie traf seinen Magen, und er keuchte überrascht auf. Auch
sie keuchte überrascht auf. Seine Bauchmuskeln zu treffen, war wie der
Zusammenstoß mit einer Ziegelmauer. Sie hatte ihm keinesfalls ernsthaft schaden
können, aber wenigstens hatte sie ihm offenbar die Luft geraubt.
Das Überraschungsmoment konnte alles bedeuten, hatte man ihr
beigebracht. Es konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.
Natürlich blieb ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie sprang auf
und rannte weiter, rannte, ohne einen Gedanken an die Richtung oder das Ziel zu
verschwenden. Die Beine taten ihren Dienst. Sie war eine Maschine. Diesen Satz
hatte man ihr wie ein Mantra eingehämmert: Du bist eine Maschine, und alle
deine Teile arbeiten zusammen. Wenn sie zusammenarbeiten, können sie alles
erreichen. Sauerstoff flutete in ihre Lungen, Kohlendioxid flutete wieder
hinaus. Sie war eine Maschine, und sie
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