Frostbite
Baumgruppen, die sich
auseinanderbogen. Dort wartete der Rüde auf sie, unbeweglich wie ein Felsen.
Der Fellsattel zwischen seinen Schultern stand aufgerichtet, und sie verstand
das Signal – er wollte, dass sie still war. Sie grub die Krallen in den
Waldboden und konzentrierte sich allein auf ihn. Ihre Konzentration war so
intensiv, dass sie beinahe Angst bekam. Und doch hatte sich zuvor nie etwas so
natürlich angefühlt. Zuvor war sie gelaufen, und das ganze Universum hatte aus
Schnelligkeit und Bewegung bestanden. Nun stand sie geduckt da, wartete, und
der Planet selbst schien für sie den Atem anzuhalten.
Der Rüde beobachtete sie genau. Er sorgte dafür, dass sie verstand,
was Stille bedeutete. Wofür Stille gut war.
Mit ihrer steinähnlichen Reglosigkeit bewies die Wölfin, dass sie es
begriff.
Seine Ohren bewegten sich vor und zurück. Er nahm den Blick nicht
von ihr. Wartete ab, ob sie den nächsten Schritt von selbst wusste. Sie war
sich dessen sicher. Lautlos und mit kleinstmöglichen Bewegungen ihrer
Nasenlöcher atmete sie die Welt ringsum ein. Alles war da, alles, was sie zuvor gerochen hatte, aber da hatte sie ihrer
Erinnerung eine Geruchskarte anvertraut und das ganze Bild aufgenommen. Dies
war anders, das begriff sie.
Er legte den Kopf ein klein wenig zur Seite. Stellte ihr eine Frage. Was riechst du ? Etwas ganz Bestimmtes.
Gewaltige Teile ihres Gehirns waren genau dieser Aktivität gewidmet.
Sie ging den großen Katalog der Dinge durch,
die sie riechen konnte, und versuchte das herauszupicken, was er meinte.
Dazu brauchte sie nur eine Millisekunde. Es
war, als hätte man einen Liebhaber klassischer Musik während einer
Symphonie gebeten, die Stimme eines einzelnen Instruments zu bestimmen. Beinahe
schon lächerlich einfach, weil ihr Gehirn diesen besonderen Geruch bereits
markiert hatte. Das Männchen brachte ihr hier keine Technik oder Finesse
bei – sondern lehrte sie bloß, sich ihrer tief verwurzelten Instinkte zu
bedienen und darauf zu vertrauen. Ihr Begleiter konnte nur einen Geruch meinen,
und sie hatte ihn entdeckt: ein Tier, ein Säugetier, etwas Kleines und
Hilfloses. Beute.
Eine völlig neue Abfolge von Gedanken, Gefühlen und Instinkten
erfüllte ihr Bewusstsein. Sie alle drehten sich um den Begriff der Beute –
und das Wissen, dass sie ein Raubtier war. Reflexartig fühlte sie sich bereit,
verspürte eine beinahe unerträgliche Vorfreude. Es wurde Zeit, jagen zu lernen.
Ihre menschliche Seite zuckte zusammen. Die Wölfin hasste ihre
menschliche Seite – sie war so hilflos und schwach, wollte sie bloß
überwachen und einsperren. Sollte sie ihrer menschlichen Seite jemals begegnen,
dann würde sie … würde sie … aber das ergab keinen Sinn, oder? Ihr Verstand wand sich verzweifelt. Er konnte diesen Gedanken
nicht zu Ende bringen. So wunderbar und elegant entwickelt er auch sein
mochte, um unter Millionen einen bestimmten Duft aufzuspüren, hatte er doch
seine Probleme mit einfacher Logik.
Ihr Begleiter versuchte abermals ihre Aufmerksamkeit zu erringen,
sprach in einer einfachen Sprache zu ihr, die sie niemals würde erlernen
müssen. Sie wusste nur zu gut, was es zu bedeuten hatte, wenn er die Zunge
hervorstieß und sich flüchtig die Schnauze leckte. Sie hob den Schwanz. Schob
menschliche Gedanken und Sorgen zur Seite. Sinnlosen Ballast. Bedeutungslos.
Beute war nahe – und sie war ein Raubtier.
Der Wind spielte mit ihrem Haar und zauste ihre Halskrause. Sie
verfügte über zwei Fellschichten, eine dichte Schicht Unterwolle und eine
bedeutend lockerere Schicht Deckhaar, die vom Körper abstand und sie größer
machte, als sie eigentlich war. Die Tasthaare waren steif, und sie stellten
sich dem Wind. Sie fühlte ihr Kitzeln, als sie sich vom Körper wegsträubten,
als das Gefühl einer Bewegung ganz in der Nähe ihre Haut zum Kribbeln brachte.
Sie war sich ihrer Umgebung vollkommen
bewusst, spürte jedes zitternde Blättchen, jedes Insekt, das über den
Boden kroch.
Die Wölfin fühlte den Hunger im
Boden, in den Bäumen ringsum, und die Enge in ihrem Leib entsprach ihm
genau. Der Sommer war die Hungerzeit im Wald, da die Karibuherden, die
ergiebige Nahrungsquelle der Wölfe,
noch weiter nach Norden wanderten, um im offenen
Gelände ihre Kälber zur Welt zu bringen. Dann mussten die Wölfe andere
Nahrung finden. Manchmal schafften sie es nicht und verhungerten.
Aber sie war eine Jägerin. Sie konnte für sich sorgen – sobald
sie gelernt hatte, wie sie das
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