Frostbite
zeigte er ihr nicht
den Hintern. Aber falls sie gewollt hätte, hätte sie ihn betrachten können,
doch das wollte sie hundertprozentig nicht. Redete sie sich jedenfalls ein.
»Dafür sorgt der Permafrost. Das ist Erde, deren Grundwasser permanent gefroren
ist, und das Grundwasser taut nie auf, nicht einmal im Sommer …«
»Ich habe schon mal eine Naturdoku gesehen«, versicherte sie ihm.
Eine Sekunde lang machte er den Eindruck, als habe er nicht die
geringste Ahnung, was sie damit meinte. Er fuhr fort. »Einige Teile des Bodens,
die im Schatten, bleiben das ganze Jahr über gefroren. Andere Teile tauen auf
und verwandeln sich in Schlamm, der sich senkt.« Er streckte die Hände parallel
nebeneinander aus, dann senkte er eine Hand. »Die Erde in dieser Gegend ist
flüssig. Nicht im Mindesten stabil, selbst wenn sie im Augenblick völlig fest
aussieht. Sie bewegt sich nur sehr langsam. Könntest du lange genug still
stehen und sie beobachten – sagen wir, ein ganzes Jahr –, dann sähst
du sie in wellenförmiger Bewegung wie die Oberfläche des Ozeans. Die
Bergarbeiter und Holzfäller, die früher hier lebten, nannten die Gegend den
betrunkenen Wald.«
Chey stützte das Kinn aufs Knie. »Du bist schon lange hier oben,
stimmt’s?«
»Fast zwölf Jahre. Man erfährt eine Menge über einen Ort, wenn man
ihm ein bisschen Aufmerksamkeit entgegenbringt. Mittlerweile liebe ich ihn
sogar.«
»Warum?«
»Nun, er hat seine Reize. Zum einen gibt es nördlich des
Polarkreises jeden Monat Tage, an denen der Mond überhaupt nicht aufsteigt.
Natürlich gibt es auch Tage, da geht er nicht unter.«
»Nein«, sagte sie. Und hielt die Luft an. Das war eine der wichtigen
Fragen. Die sie sich schon seit langer Zeit stellte. »Ich meine, warum bist du
überhaupt hier heraufgekommen? Dzo sagt, hauptsächlich liege es daran, dass es
hier oben keine Menschen gibt, die du verletzen könntest. Das leuchtet mir ein.
Aber selbst wenn das der Hauptgrund ist, muss es ja nicht der einzige Grund sein.«
»Ich habe noch andere Gründe«,
erwiderte er. Plötzlich klang seine Stimme rau. Sie spähte an dem Baum
vorbei und entdeckte, dass er sie anstarrte. »Ich weiß nicht, ob ich dir eine
solche Information anvertrauen soll oder nicht.«
»Bist du mir nicht etwas schuldig?«, fragte sie. Seine Augen
verengten sich, und sie rutschte unbehaglich ein Stück zur Seite. »Das ist
nicht nur unverschämte Neugier. Wenn wir den Rest unseres Lebens zusammen
festsitzen, dann muss ich dich besser verstehen.«
»Sei nicht so dramatisch!«, erwiderte er etwas zu schnell.
Hm. Zumindest dieses eine Mal schien sie seine Rüstung zu
durchdringen. Sie beschloss, sich den Vorteil zunutze zu machen. »Geht es denn
nicht genau darum? Dzo sagte es – du lässt mich nicht gehen. Ich könnte
mich nach Süden durchschlagen, zurück in die Zivilisation. Wo ich jemanden
verletzen könnte. Also muss ich in deiner Nähe bleiben, damit du mich im Auge
behalten kannst.« Mit einer umfassenden Geste wies sie auf den ganzen Norden.
»Dieser Ort ist eine einzige große Gefängniszelle, und wir sind Zellengenossen.
Du willst, dass ich dir verzeihe – und zwar alles. Warum fängst du nicht
mit einem kleinen bisschen Ehrlichkeit an?«
Es gelang offensichtlich – sie war dabei, ihn zu überreden. Sie
wollte, dass er es aussprach, dass er zugab, warum er in diese kalte Gegend
geflohen war. Gestand er seine Tat, dann würde ihr das sehr helfen. Er öffnete den Mund, aber genau in diesem Augenblick hallte Dzos
Hupe durch den Wald. Das Signal galt ihnen.
Der Zauber war gebrochen. »Vielleicht sprechen wir später darüber«,
grollte er und meinte damit, dass das gewiss nicht passieren werde. Dieses
Spiel war ihr bekannt.
Nackt gingen sie zusammen durch den Wald, Powell vor ihr, damit er
sie nicht anstarren konnte. Sie studierte die eckigen Kanten seines Rückens,
die Knochen, die unter seinen Schultern zu sehen waren, und fragte sich, ob sie
wirklich einen Kontakt zu ihm gefunden hatte. Dann versuchte sie diese Gedanken
abzuschütteln. Es war schon zuvor gelungen, als es um andere Dinge gegangen
war. Um seine seltsame Welt. »Verrätst du mir dann etwas anderes?«, fragte sie.
Misstrauisch knurrte er ein Ja.
»Verrätst du mir, wie du an deinen Wolf gekommen bist?«
Er wandte sich zu ihr um, und ihre Arme hoben sich ruckartig, um die
Brüste zu bedecken. Er jedoch starrte ihr unverwandt in die Augen. »Also gut«,
sagte er. »Zumindest das erzähle ich
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