Frostbite
dir.«
15 »Ich kam in Winnipeg zur Welt, aber das ist schon
eine Weile her«, begann Powell, als sie auf der Ladefläche von Dzos Truck saßen
und zum Haus fuhren. »Ich hatte eine ganz normale Kindheit. Ich spielte wie
jeder Junge mit Zinnsoldaten, arbeitete für meinen Vater, einen
Lebensmittelhändler. Ich bekam nicht viel von der Schule zu sehen, aber ich
wusste nicht, was ich verpasste, also
beschwerte ich mich nicht. Mit neunzehn
erhielt ich die Aufforderung, diesem Land im Großen Krieg zu dienen.« Powell
sah an ihr vorbei. »Du würdest ihn vermutlich den Ersten Weltkrieg nennen.«
»Moment«, sagte Chey. Ihr war gerade etwas klar geworden. »Das alles
geschah, als du neunzehn warst? Du warst neunzehn, als der Erste Weltkrieg
ausbrach?«
»Ich wurde achtzehnhundertfünfundneunzig geboren.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du siehst keinen Tag älter aus als
vierzig«, sagte sie. Aber seine Augen waren alt. Sie waren ihr immer alt
vorgekommen.
»Wir verwandeln uns fast jeden Tag. Wenn das geschieht, wachsen uns
nicht bloß Haare und Zähne. Jede Zelle in unseren Körpern wird verändert und
erneuert. Unsere Zellen haben keine Zeit zu altern. Es stimmt, Chey. Ich bin
hundertelf. Und den größten Teil dieser Zeit war ich ein Wolf. Ich ahne schon
deine nächste Frage, aber ich weiß keine Antwort darauf. Ich weiß nicht, ob wir
an Altersschwäche sterben oder nicht. Ich fühle mich so gesund wie bei meiner
ersten Verwandlung, und darüber hinaus kann ich nichts dazu sagen.«
Bei der Vorstellung, so lange zu leben und von einer gottverlassenen
Ecke der Welt zur nächsten flüchten zu müssen, fröstelte Chey. Wie lange würde
sie leben? Vor ihr lagen Jahrzehnte endloser Verwandlungen – vielleicht
Jahrhunderte. Nackt auf dem Waldboden aufzuwachen …
Chey erbebte, und daran war nicht die mangelnde Kleidung schuld. Sie
verspürte das dringende Verlangen, das Thema zu wechseln. »Hast du einen dieser
albernen Helme getragen, die wie Schüsseln aussehen?«
»Ja, so einen hatte ich auf dem Kopf, gottverdammt noch mal«, sagte
er, und sein Nacken rötete sich. Es war das erste Mal, dass sie ihn fluchen
hörte. »Ich trug einen zwei Pfund schweren Mark-One-Helm. Und khakifarbene
Wickelgamaschen, die meine Beine und Füße trocken halten sollten. Aber sie
taugten nichts. Ich weiß nicht, was man dir über diesen Krieg beigebracht hat,
worum es ging oder warum wir überhaupt dort kämpften, aber so weit es mich
betrifft, ging es bloß um Schlamm. Oh, es gab ein paar hübsche Lieder, die wir
über Königin und Vaterland sangen, aber der Alltag, wenn alles seinen Gang
nahm … Meine Erinnerungen an den Krieg bestehen hauptsächlich aus dem Gestank
der Füße anderer Männer und viel Schlamm. Überall war Schlamm, und die
Deutschen beschossen unseren Schlamm ununterbrochen mit Granaten, und wir
beschossen ihren Schlamm, und manchmal nahmen wir ihnen ihren Schlamm weg, und
manchmal mussten wir ihn zurückgeben. Wir gruben uns in dem Schlamm ein, um den
Explosionen zu entgehen, und dann duckten wir uns in unseren Schlamm und
warteten auf den Tod.
Gelegentlich befahl man uns, über Stacheldraht hinwegzukriechen und
auf alles zu schießen, was sich bewegte. Jeder wusste, was das bedeutete –
dass die meisten von uns nicht zurückkehren würden. Weißt du, das war der erste
Krieg, in dem man Maschinengewehre einsetzte und Panzer und Bomben aus
Flugzeugen und Giftgas, und niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wie Männer
mit Mark-One-Helmen und Gamaschen dagegen antreten und überleben sollten, also
gab es auch nur wenige Überlebende.
Wir taten, was in unserer Macht stand, um nicht zu viel darüber
nachdenken zu müssen. Alkohol war immer zu haben, aber nur billiges Zeug, was man
eben in alten Kaffeedosen zusammenbrauen konnte, und man litt tagelang an
verdorbenem Magen.
Dann gab es da noch die Frauen. Schließlich waren wir in Frankreich,
und in Frankreich sollte es angeblich vor hübschen Mädchen nur so wimmeln.
Blöderweise hatten die sich alle in weniger schlammige Gegenden verzogen, als
die Schießerei anfing. Die Zurückgebliebenen waren nicht unbedingt die
Hübschsten, aber sie waren … nun ja, sagen wir … entgegenkommender als die
Mädchen in der Heimat. Vor allem an den Tagen, an denen in den Schützengräben
der Sold ausgezahlt worden war. Du weißt, was ich meine.«
Chey lächelte. »Ja, klar.«
»Eines Abends borgten meine Kumpel
und ich uns einen Geländewagen und fuhren stundenlang
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