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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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echtes mittelalterliches Schloss. Ein paar dringende Reparaturen wären
nötig gewesen. Eine deutsche Granate hatte einen der Türme zum Einsturz
gebracht. Aber es war ein Schloss – und unsere geheimnisvolle Begleiterin
erwies sich als die Tochter des Barons de Clichy-sous-Vallée.«
    »Oho, die Spannung steigt.«
    »Wir hatten Angst, ihr Vater käme möglicherweise mit einem
Hunderudel und einem alten Schrotgewehr herausgestürmt, um uns zur Rechenschaft
zu ziehen, dass wir die Ehre seiner Tochter in den Schmutz gezogen hätten. Aber
wie sich herausstellte, war diese Sorge unbegründet. Der alte Mann war
losgezogen, um als Offizier bei der Kavallerie zu dienen. Er war bei einem
Angriff gegen eine Maschinengewehrstellung zusammen mit allen seinen Männern
gefallen.
    Also gab es keinen Baron. Aber die Baronin war zu Hause, und sie
öffnete uns in einem abgetragenen Gewand die Tür. Sie hatte braunes Haar und
einen traurigen Blick, und in der Hand hielt sie einen goldenen Kandelaber, in
dem keine Kerzen steckten. Wie ich schon sagte, waren uns im Krieg schon viele
Verrückte begegnet. Sie kam mir vor wie zwanzig oder dreißig, und auf den
ersten Blick hielt ich sie für Lucies Schwester. Das war sie aber nicht.
    Lucie ging auf ihr Zimmer und zog sich ein Kleid aus dem letzten
Jahrhundert an. Ich meine das neunzehnte Jahrhundert. Ein Gewand, wie es
Josephine bei Napoleons Krönung getragen haben könnte, bloß dass sich die
Motten darüber hergemacht hatten und die Ärmel Fettflecken aufwiesen. Ich nahm
an, dass dies vermutlich ihr bestes Kleid war, und ich hatte nicht vor, auch
nur ein Wort darüber zu verlieren. Außerdem war es schulterfrei, und sie hatte
Schultern wie … wie …«
    »Wie?«, fragte Chey, aber sie sah, dass Powell in seinen
Erinnerungen versunken war. Sich an diese Schultern erinnerte. Sie räusperte
sich lautstark, um ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen.
    »Richtig, nun ja. Als sie wieder nach unten kam, führte man uns in einen Bankettsaal, dessen Wände mit
Wandteppichen geschmückt waren. Das Dach war voller Löcher, und Regen hatte die
meisten Möbel beschädigt, aber auf dem Tisch stand Fleisch, ein Hammelbraten,
wie wir ihn in den Schützengräben nie bekamen. Es wurde auch Wein angeboten,
Wein, wie es ihn nicht mehr gibt. Meine Kameraden und ich aßen und tranken
tüchtig, vielleicht auch mehr als das.
    Lucie setzte sich neben mich. Aus welchem Grund auch immer hatte sie
mich erwählt. Die anderen Burschen bemerkten es, und es gab viele eifersüchtige
Blicke am Tisch, was Lucie nur dazu veranlasste, mir noch mehr Aufmerksamkeit
zu schenken. Denn ihr war klar, wie schlecht ich mich fühlte. Sie genoss es,
dass mir unbehaglich zumute war. Sie hing den ganzen Abend wie eine Klette an
mir, fasste mich am Ellbogen, bediente mich von den Silberplatten, sorgte
dafür, dass mein Glas stets gefüllt war. Die anderen Burschen versuchten es bei
der Baronin, aber sie hätten genauso gut eine Haubitze anschmachten können, so
wenig beachtete sie sie.
    Als wir uns vollgestopft hatten und betrunken waren, beugte sich
Lucie so dicht zu mir heran, dass ich ihr Parfüm roch, und sah mir in die
Augen. Sie schenkte mir ein geheimnisvolles Lächeln, das vielerlei auszudrücken
schien. Dann flüsterte sie mir ins Ohr, sie müsse mir etwas zeigen. Sie hatte
sich das weiße Gesicht gewaschen, und in dem altmodischen Kleid sah sie aus wie
ein Geist aus einer Gespenstergeschichte. Selbst als ich vom Tisch aufstand und
meine Kameraden johlten und pfiffen, kam ich mir vor, als stünde ich unter
einem Zauberbann. Vielleicht traf das auch tatsächlich zu.«
    Chey hielt den Mund.
    »Lucie führte mich durch dunkle und feuchte Korridore tief in das
Schloss hinein. Unser einziges Licht war eine
Kerze, die sie vor sich hielt. Ich bemerkte, dass heißes Wachs über ihre
Hände rann, aber sie gab keinen Laut von sich, und ich fragte mich, wer dieser
Geist wohl war. Sie führte mich über eine Steintreppe in den Schlosskeller
hinunter. Die Kuppelwände waren ganz weiß von Salpeter. Zentimeterhohes
schlammiges Wasser bedeckte den Boden. Lucies Kleid schleifte durch den
Schmutz, aber bevor ich etwas sagen konnte, schritt sie immer schneller aus,
und ich gab mir Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren. Wir passierten Regale
voller Weinflaschen, von denen einige geplatzt waren, weil sich offenbar
niemand mehr darum kümmerte. Wir kamen an Möbelstapeln vorbei, die bis zur Decke
reichten, Stücke, die heute unbezahlbare

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