Frostbite
dir besprechen.«
Sie seufzte. Sosehr sie sich im Augenblick auch menschliche
Gesellschaft ersehnte, sie wollte, dass er den Mund hielt. »Ja?«
»Morgen«, sagte er. »Du wirst nur vier Stunden Menschenzeit haben.«
Sie begriff und nickte. »Ich will das Beste daraus machen. Ein Bad
nehmen, mindestens zwei Mahlzeiten essen. Ich will ein Buch lesen, falls du
eins mitgebracht hast. Egal was, nur damit ich mich wieder wie ein Mensch
fühle, bevor ich fünf Tage lang ein Wolf bin.«
Bobby verzog das Gesicht. »Eigentlich … ich dachte, du könntest hier
oben im Turm bleiben. Die ganze Zeit.«
»Aber … warum?«, fragte sie.
»So ist das für uns alle sicherer.
Vier Stunden sind nicht viel Zeit. Wir könnten den Überblick verlieren …«
Sie schüttelte den Kopf. Nein. Nein, dem Vorschlag konnte sie nicht
zustimmen. Das war nicht hinnehmbar.
»Mal sehen, ob ich dir ein Buch besorgen kann. Ich glaube, die
Pickersgills haben ein paar Magazine mitgebracht. Vielleicht leihen sie dir
eins. Obwohl du das letzte Lesematerial in Stücke gerissen hast.«
Er meinte das Buch von Edward
Abbey. Das sie im Feuerturm gefunden und zu trocknen versucht hatte. Die Wölfin
hatte die gedruckten Worte so vehement zerfetzt, als hätte es sich um einen
Menschen gehandelt.
Das tat sie, wenn Chey sie
einzusperren versuchte. Sie zerstörte die Dinge, die sie brauchte, um den Verstand nicht zu verlieren, denn
nur so konnte sie sie verletzen.
»Nein«, sagte sie. »Nein. Ich bleibe nicht hier oben. Ich weigere
mich.«
»Okay, die Zeit ist um«, sagte er, bevor sie weiter protestieren
konnte. Er stieg durch die Falltür und brachte
das Vorhangschloss an, bevor sie sich überhaupt verabschieden konnte.
Sie fiel auf die Knie und klopfte gegen die geschlossene Tür.
Klopfte mit aller Kraft. »Bobby«, rief sie, »du Hurensohn, du kannst nicht
einfach abhauen und erwarten …«
Aber dann flutete das Silberlicht in ihr Gehirn.
Später kam sie schreiend und
schluchzend wieder zu sich. Sie war noch nicht wieder ganz menschlich. Die
Wände … die Wände … sie rückten näher … die Wände … wie lange … wie lange war
sie schon eingesperrt … wie lange hatte die Wölfin geheult … diese Wände …
Chey kreischte. Mit tränennassem Gesicht drängte sie sich in die
Ecke des kleinen Raums … die Wände … die Wände …
Komm schon, Chey!, dachte sie.
Beruhige dich! Beruhigedich einfach – okay?
Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Konzentrierte sich auf die
Dunkelheit, betrachtete sie als die Abwesenheit von Licht und nicht als dunkle
Flüssigkeit, die sie einschloss und ertränkte.
Einatmen, ausatmen.
Schließlich hatten ihre Knie wieder mehr Kraft, und sie zog ihre
Kleidung an. Dann öffnete sie einen Schlagladen, um Licht hereinzulassen.
Vier Stunden. Ihr blieben noch vier Stunden. Oder weniger. Wie lange
hatte sie gebraucht, um sich zu beruhigen? Wie lange hatte sie geschrien? Wie
viel Zeit hatte sie verschwendet …
Sie lehnte sich an den Fensterrahmen und hielt den Kopf in die frische Luft. »Lasst mich hinaus!«,
verlangte sie. Es klang wie ein Stöhnen. »Lasst mich hinaus! Mir bleibt
nicht mehr viel Zeit. Ich will nicht hier oben bleiben. Lasst mich …«
Ihre Hände umklammerten das Holz und fühlten sich seltsam an. Ein Blick darauf
verriet ihr, dass sie transparent waren und sie hindurchsehen konnte. Als
bestünden ihre Hände aus durchsichtigem Glas. Oder … nein … als bestünden sie
aus Nebel.
Das Silberlicht kehrte zurück, und sie schrie.
43 Die
Wölfin heulte.
Die Wölfin hatte das Gefühl, immer schon geheult zu haben.
Die Wölfin war ein wenig verrückt geworden.
Nicht verrückt, wie ein Mensch verrückt wurde. Wie ein Tier. Es gab
zwei Teile von ihr, von ihrem Ich, von ihrem Verstand. Der denkende Teil ihres
Gehirns, der Teil, der Probleme zu lösen
vermochte und sie vor misslichen Situation bewahrte, wurde mit jeder
verstreichenden Stunde weniger aktiv. Der instinktive Teil, die ältere Hälfte
ihres Gehirns, erhob sich mit gesträubtem Fell und nahm immer mehr von ihrer
mentalen Energie in Besitz. Zorn, Furcht und Verzweiflung hatten sich in
Gehirnwindungen angesammelt wie Absonderungen in den Ohren. Entsetzen, Hass und
Schmerz wuchsen mit jedem Tag, den sie an diesem Menschenort eingesperrt war,
und das Mondlicht, das durch die winzigen Ritzen in der Decke und den
Schlagläden drang, verstärkte jene Regungen noch weiter. Verdoppelte sie … ihr
Hass, ihr Zorn und
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