Frostbite
ihre Folter verdoppelten sich. Nein, sie wurden
verzehnfacht, weil sie genau wusste, dass ein Menschenweibchen in ihrer kleinen Zelle gewesen war, als sie das letzte Mal
geschlafen hatte. Sie roch das Weibchen
auf dem Boden, an den Wänden. Sie leckte über das Holz und schmeckte den
Menschen, die ölige Säure der Haut des Weibchens, die unerträgliche Dichte ihres künstlichen Geruchs. Sie hasste,
hasste, hasste die Menschenfrau, wollte ihr den Hals brechen, ihre Knochen
zwischen den Zähnen zermalmen. Wo war sie? War sie in der Nähe? War sie … war
sie?
War sie noch immer da? Verbarg sie sich irgendwo? Die Wölfin spürte
das Weibchen, als verstecke es sich unter ihrer Haut.
Sie schritt die Ecken ihrer Zelle ab, trabte von Wand zu Wand. Es
gab nicht genügend Platz, nicht genug, nein,
nein, nein. Sie hechelte vor Furcht, Furcht, Furcht. Ihre Beine
verkrampften sich, und ihr Kopf senkte sich – ihr Körper füllte den ganzen
zur Verfügung stehenden Platz aus. Ihr Zorn füllte jeden Quadratzentimeter. Er
dehnte und streckte die Wände, als könne sie entkommen, bloß weil sie es so
verzweifelt verlangte.
Schließlich legte sie sich auf den Bauch, ließ die Zunge aus der
Schnauze hängen und atmete ruhiger. Und heulte noch immer.
Der Mensch, der andere Mensch, das Männchen – war er in der
Nähe? Der ihr Bein angekettet hatte, den sie um ein Haar verschlungen hatte. Er
hatte ihr das angetan – er hatte sie an diesem schrecklichen Ort
eingesperrt. Sie roch ihn. War er in der Nähe? Sie würde ihn in Stücke reißen.
Sie würde, sie würde, sie würde. Sie würde.
Nein, der Mensch war nicht in der Nähe. So viel wusste sie.
Trotzdem – sein Körpergeruch und sein Aftershave waren auf den Wänden und
dem Boden verteilt. Der Gestank brannte ihr in der Nase, in den Augen.
Und sie heulte weiter.
Sie heulte. Sie war eine Kreatur, die heulte. Das war alles, was sie
in diesem Gefängnis noch hatte. Das Heulen brach aus ihr hervor wie die reine,
destillierte Essenz ihres Leidens, langes, grollendes Entsetzen, das sich ihrer
Kehle, ihrem Bauch entrang, das in ihrer Brust rumorte, in ihr bebte. Und in
die Luft aufstieg.
Sie stieß das Heulen aus – und nichts veränderte sich. Das
Heulen bewirkte überhaupt nichts.
Vier Tage lang heulte sie, während ihr Körper hungerte und schwächer
wurde. Selbst als ihr Gehirn schon im Schädel
vertrocknete und sie vergaß, warum sie eigentlich heulte.
Sie heulte weiter.
Und dann, eines Nachts, hörte sie den anderen Wolf draußen in der
Dunkelheit – der das Heulen erwiderte.
Ihre riesige Schnauze schnappte zu. Ihre Ohren spitzten sich. Sonst
lag ihr Körper völlig reglos da. Sie gab nicht den geringsten Laut von sich,
während sie lauschte. Sie hatte keine Veranlassung, sich nach seiner Nähe zu
sehnen, das wusste sie. Sie wusste, dass er sie töten wollte. Aber er war ein
Wolf, eine Kreatur wie sie. Ein anderer, ein anderer, ein anderer – einer
wie sie selbst. Sie lauschte, legte die Ohren an und lauschte, wollte ihn
verzweifelt hören.
Ein ohrenbetäubendes Heulen erschütterte den Wald, prallte von den
Baumstämmen ab. Ein suchendes Jaulen. Dann war es verklungen.
Ihr Körper brachte kaum noch Laute hervor, hatte nur noch wenig
Energie, fast keine Reserven mehr. Sie kläffte. Wimmerte. Sie sprang hoch und
kratzte an den Wänden, bis sich einer der
Schlagläden einen Spaltbreit öffnete und sie die Schnauze in die dunkle
Luft schieben konnte, mit der Zunge den Wind schmeckte.
Da war es wieder – das Heulen, eine Antwort. Ihr Wollhaar sträubte sich von ihrer Haut, als würde es
sich dem Laut entgegenstrecken. Diesem lang gezogenen, ausgedehnten,
einsamen Laut. Er hielt nach ihr Ausschau, er suchte nach ihr. Sie winselte.
Unter ihr klirrte Metall, prasselte ein Feuer. Menschen bewegten
sich aufgeregt. Hatten sie die Antwort vernommen? Sie mussten sie vernommen haben.
Sie hörte, wie sie aufgeregt ihr Feuer löschten. Sie hörte, wie sie sich in den
Wald begaben, die Hände mit Eisen gefüllt, die Stimmen gesenkt. Die gegrunzten
Worte hatten keine Bedeutung für die Wölfin.
Die Antwort kam erneut. Sie wühlte tief in ihrem Innern, wühlte in
den letzten flackernden Scheiten ihrer Kraft, und sie stieß ein gurgelndes
Kläffen aus. Laut genug, um ihn zu führen, laut genug, damit er sie in den
Wäldern fand. Laut genug, um ihn zu ihr zu führen.
Völlig erschöpft sank sie zurück und brach auf dem Holzboden zusammen,
ein Vorderbein über der
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