Frostblüte (German Edition)
einen Platz aus. Nicht dort«, fuhr sie mich an, als ich instinktiv auf einen leeren Tisch in der hintersten Ecke zusteuerte. Als sie meinen gehetzten Gesichtsausdruck sah, wurde sie ein wenig milder. »Ach, na gut. Kleine Schritte.«
Wir setzten uns an den freien Tisch und ich hob die Deckel von den Gefäßen, deren kräftige Gerüche meinen Magen noch heftiger knurren ließen. Außerdem lieferte es mir eine Ausrede, die Heilerin nicht anzusehen. Ihr Blick war zu durchdringend, um sich wohlzufühlen.
»Frost«, sagte sie schließlich, während sie nachdenklich ein duftendes Gericht umrührte, das ich für Lamm hielt. »Weißt du eigentlich, was die Berggarde ist? Wirklich?«
»Luca hat gesagt, ihr wärt hier, um die Bergbewohner vor den Aufständischen zu schützen.«
»Das ist unsere Aufgabe, aber nicht das, was wir sind. Nämlich Überbleibsel.«
»Überbleibsel?«, fragte ich verwirrt.
»Als Luca die Aufgabe übertragen wurde, eine Truppe auf die Beine zu stellen, die diese Berge bewachen würde, wählte er keine Soldaten aus der normalen Armee. Seiner Meinung nach waren sie zu sehr daran gewöhnt, Befehle entgegenzunehmen und in ordentlicher Formation gegen Feinde zu kämpfen, die sich an die Regeln halten. Er wusste, dass solche Leute nicht für diese Aufgabe taugen würden. Also sammelte er sämtliche Überbleibsel zusammen. Reste und Teile von Widerstandsgruppen, die den Krieg überlebt hatten. Menschen, die kämpfen wollten, aber keinen Platz für sich fanden, weil sie Schwierigkeiten damit hatten, sich herumkommandieren zu lassen. Menschen, die nicht in ihre Familien passten oder die ihre Angehörigen verloren hatten. Wir haben alle auf irgendeine Art einen Knacks.«
Sie starrte in ihre Teetasse. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, aber nicht traurig. »Ich stamme aus einer sehr reichen, sehr bedeutenden sedrischen Familie. Sie waren Günstlinge von Abheron dem Wahnsinnigen und damit ist auch schon alles über sie gesagt. Sie haben mich mit einem seiner anderen Günstlinge verheiratet. Er war ein bösartiger Mann. In den ersten Jahren lief ich ein oder zwei Mal davon, doch in Sedra ist eine Frau Besitz ihres Mannes, und zwar ungeachtet dessen, wie niederträchtig er sich verhält. Man hat mich immer wieder zurückgebracht. Dafür hat meine Familie gesorgt.
Nachdem mein Gatte mich nach Ruan mitgenommen hatte, ergriff ich die Gelegenheit und lief ein letztes Mal davon. Mittlerweile war ich schlau genug, nicht Zuflucht bei meiner Familie zu suchen, aber ich besaß kein Geld, keine Freunde, keine Fähigkeiten. Keinen Ort, wohin ich gehen konnte. Ich lebte in Aroha auf der Straße und tat alles, um zu überleben. Irgendwann fand mich der Orden der Urmutter und nahm mich auf. Sie lehrten mich die Heilkunst und ich stellte mich geschickt an. Jahre später half ich der Reia bei der Entbindung ihres Sohnes. So lernte ich Luca kennen und so wurde ich eines seiner … Überbleibsel.«
Sie nickte zum Nachbartisch hinüber. »Siehst du den Jungen dort, den hübschen Jungen mit dem roten Schal? Er heißt Dinesh. Als er fünf war, wurde seine Familie bei einem sedrischen Grenzscharmützel getötet. Er war der einzige Überlebende. Bis er zehn war und ihn ein umherwandernder Namoa fand – so heißen die heiligen Männer und Frauen, die dem Weg der Urmutter folgen –, lebte er wie ein Tier in den Wäldern. Noch immer spricht er kaum. Und die Frau neben ihm? Das ist Adela. Sie war von ihrem zwölften bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr eines der Dienstmädchen von Abheron dem Wahnsinnigen. Ich möchte mir nicht ausmalen, welche Abscheulichkeiten sie wohl mit ansehen musste. Wir mögen in unseren ordentlichen, sauberen Uniformen wie Gesetzeshüter aussehen, doch es gibt keinen unter uns, der nicht weiß, was es heißt, auf der Flucht zu sein oder keine Heimat zu haben oder sich zu verstecken. Deshalb können wir uns besser als alle anderen in die Aufrührer hineinversetzen, gegen die wir kämpfen. Und deshalb gibt es hier einen Platz für dich – ganz gleich, woher du kommst oder was du früher getan hast. Wenn du dich überwinden kannst, ihn anzunehmen.«
Nun war es an mir, in meine Tasse zu starren. Ich fühlte mich geehrt, dass sie sich mir anvertraut hatte. Aber es fiel mir so schwer zu glauben. So schwer zu hoffen. Vielleicht war es das Beängstigendste, was ich je getan hatte.
»Denk einfach darüber nach«, sagte sie nach einem Moment. »Und iss auf. Heute Nachmittag geht die Arbeit los.«
Zwölf
»Der alte
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