Frostblüte (German Edition)
er ist. Doch wir wollten es nicht sehen.« Luca hielt einen Moment inne, sein Blick verharrte auf etwas in der Ferne.
Nach einer Weile schien er sich wieder zu besinnen und redete weiter. »Als Ion achtzehn war, konnte man ihm nichts Lebendiges mehr anvertrauen. Er ritt seine Pferde zu Tode, erwürgte einen Jagdhund, der nach ihm geschnappt hatte, drangsalierte die Diener, Männer wie Frauen. Und ich wusste das alles, verabscheute es, aber … mit uns, mit mir, ging er anders um. Er tat mir nie weh oder ärgerte mich. Er war geduldig und sanft. Er hob mich vor sich auf den Sattel, stibitzte für mich Süßigkeiten, ging mit mir angeln. Beim Abendessen erzählte er uns Geschichten, alberne Geschichten, die meiner Mutter und meinem Vater vor Lachen Tränen in die Augen trieben. Er war der tollste große Bruder der Welt. Ich hatte nie Angst vor ihm. Nicht eine Sekunde. Und dann …«
Er versuchte sich wieder zu fangen und ich erwartete angstvoll seine nächsten Worte.
Schließlich redete er weiter. »Mein Vater adoptierte Arian und brachte ihn in unser Haus. Anfangs war er wie ein kleines wildes Tier, lechzte nach jeder noch so kleinen Freundlichkeit. War so hungrig nach Liebe. Wir mochten ihn alle sehr und wollten ihm zeigen, wie viel er uns bedeutete – dass er uns trauen konnte. Ion war damals gerade verreist. Doch in dem Augenblick, als er nach Hause kam, wusste ich Bescheid. Ich sah, wie Ion Arian musterte. Am nächsten Tag hatte Arian bereits überall blaue Flecken. Der gehetzte Ausdruck war wieder in seinen Augen. Ich ging zu meinem Vater und erzählte ihm alles; ich nötigte Arian, ihm die Flecken zu zeigen. Vater wollte es nicht glauben, doch auch er liebte Arian, und diese Liebe zwang ihn, sich der Wahrheit zu stellen. Er rief Ion zu sich und befahl ihm aufzuhören. Weiter nichts. Ich werde nie den Blick vergessen, den Ion mir damals zuwarf. Er war wütend und fühlte sich natürlich verraten, aber auch verletzt. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass ich gegen ihn für Arian Partei ergreifen könnte. Für Ion war Arian bloß ein weiteres Geschöpf, das er zu seiner Belustigung quälen konnte. Er war keiner von uns. Er war bedeutungslos. Nie zuvor hatte jemand gewagt, Ion für seine Missetaten zur Rede zu stellen, und dass wir es nun taten, wegen eines Außenstehenden … Ich glaube, das hat Ion das Herz gebrochen. Falls er eines besaß, das brechen konnte. Er tobte und schrie meinen Vater und mich an, zertrümmerte Gegenstände, machte uns allen Angst. Am nächsten Tag war er verschwunden. Er ging nach Aroha, an den Hof von König Abheron.«
»Dem Wahnsinnigen König?«
Luca nickte. »Ion wurde beinahe augenblicklich zu einem seiner Lieblinge. Offensichtlich amüsierten Abheron seine … Possen.« Seine Stimme versagte. Ich spürte, wie sich seine Brust hob, als er tief Luft holte. »Ein halbes Jahr später schickte König Abheron als Söldner verkleidete Soldaten nach Mesgao. Um uns alle zu töten.«
Ich biss mir auf die Lippe, um nicht aufzustöhnen.
»Hatte sich Ion darüber beschwert, wie ihn mein Vater behandelt hatte? Hatte er ein paar Bemerkungen zu viel darüber fallen lassen, was mein Vater und mein Onkel von Abherons Zurechnungsfähigkeit hielten? Ich weiß nicht, ob er uns verraten hat oder ob Abheron nur gegen uns vorging, weil er es unterhaltsam fand.
Mein Vater und mein Onkel waren damals gerade dabei, in Mesgao eine Steinfestung zu bauen, doch bis zu ihrer Fertigstellung wohnten wir in einem Holzgebäude auf der Rückseite. Abherons Leute legten Feuer. Das war seine Lieblingsmethode, um zu morden. Mein Cousin – Sorin – war nicht zu Hause. Er war ein paar Tage vorher zu Freunden geritten. Arian wachte nachts auf und sah die Flammen. Ich war bereits bewusstlos. Irgendwie brachte er die Kraft auf, mich ins Freie zu ziehen. Da ihm bewusst war, dass, wer immer das Feuer gelegt hatte, auf Überlebende lauern würde, schleppte er mich in die Festung und versteckte mich hinter Steinquadern. Er wollte zurück, um meine Eltern und die anderen zu retten, doch Abherons Soldaten fingen ihn ab. Sie brachen ihm einen Arm, die Nase und die meisten Rippen, doch er verriet ihnen nicht, wo ich versteckt war. Als sie gingen, hielten sie ihn für tot, das Haus lag in Asche. Mein Cousin kehrte ein oder zwei Tage später zurück und fand … die Überreste. Er brachte uns fort. Wir waren die einzigen Überlebenden.«
Lucas Stimme klang plötzlich gepresst. Seine Muskeln hatten sich unter meinen
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