Frostblüte (German Edition)
sprach nicht weiter, sondern schüttelte heftig den Kopf, als könne ich so die Erinnerungen abschütteln. »Er war sechs Jahre älter als ich. Ich hatte keine Chance gegen ihn. Doch als er mich angriff, begann ich zu bluten. Und der Wolf ergriff wieder Besitz von mir. Er hieb auf den Jungen ein, bis von dessen Gesicht nichts mehr übrig war. Ich kann mich noch immer daran erinnern, wie sein Schädel unter meinen Fäusten zerplatzte. Als ich wieder zu mir kam, waren meine Hände und Kleider voller Blut und Knochensplitter.«
»Frost …«
»Die Familie des Jungen forderte meinen Tod. Dieses Mal sollte ich ertränkt werden. Wieder flehte meine Mutter um Gnade und am Ende verbannten uns die Ältesten. Es passierte jedes Mal. Jedes Mal. Weil wir allein und schutzlos waren, gab es immer irgendjemanden, der uns Schaden zufügen wollte. Und dann kam der Wolf, und wenn er fertig war, traf uns die Schuld. Wir endeten in einem kleinen, zerfallenen Dorf, wo alle halb verhungert waren. Meine Mutter war krank. Sie war zu müde, zu ausgelaugt, um ihren Beruf noch auszuüben, und so hatten wir kein Geld für Essen. Ich jagte für uns und die Dorffrauen versprachen, dass sie sich während meiner Abwesenheit um sie kümmern würden, wenn ich ihnen dafür etwas Fleisch mitbrachte. Doch als ich zurückkam, war sie tot. Sie hatten zu große Angst, um das Haus zu betreten. Ich weiß nicht, ob sie mehr Angst vor dem Fieber oder vor meinem Fluch hatten. Weißt du, die Gerüchte waren mir gefolgt. Ma starb allein in der Kälte und ohne jemanden, der ihre Hand gehalten hätte. Meinetwegen.«
Arian knurrte. »Diese Frauen waren feige. Sie haben dich angelogen. Warum sollst du daran schuld sein?«
»Arian – du bist völlig unlogisch. Wenn das, was mit meiner Mutter passiert ist, nicht meine Schuld war, wie kann das, was mit Lucas Familie geschehen ist, deine Schuld sein?«
Er holte scharf Luft. »Das ist etwas völlig anderes.«
»Ja, es ist anders«, sagte ich und nahm nun die Bitterkeit in meiner eigenen Stimme wahr. »Der Grund, weshalb dich deine Verwandten gehasst haben, war weit weniger einleuchtend. Sie hassten dich dafür, dass du geboren wurdest. Dass du grüne Augen hast. Sie hassten dich für deine bloße Existenz. Du hast nie irgendjemandem Schaden zugefügt – anders als ich. Und ich werde dir noch etwas sagen, was deine und meine Geschichte unterscheidet, Arian. Dich hat jemand gefunden, als du ganz unten warst. Lord Petru und Luca sahen das Gute in dir und haben dir ein anderes Leben angeboten. Und auch wenn Lord Petru nun tot ist, hast du immerhin noch Luca. Er weiß alles über dich und liebt dich trotzdem, liebt dich wie einen Bruder. Das hatte ich nie. Sogar meine eigene Mutter hat sich vor mir gefürchtet. Jedes Mal, wenn ich mich zu schnell bewegte, zuckte sie zusammen. Und nachts, jede Nacht, hörte ich sie weinen, über mich und das, was ich getan hatte.«
» Nein.« Er klang fast verzweifelt, als hätte ihm meine Geschichte ebenso zugesetzt wie mir seine. »Sag das nicht.«
»Warum nicht?«, wollte ich wissen. »Du hast dir selbst nie verziehen. Warum sollte ich es tun?«
Für einige Minuten herrschte Schweigen in der kleinen Höhle.
»Gut«, sagte er müde. »Gut. Weißt du, wenn du erst mal anfängst, bist du wie ein Erdrutsch. Erst kommen die kleinen Steinchen runter, dann prasseln Kiesel und Steine, dann Felsbrocken auf einen nieder, bis man völlig platt ist und einem nur noch die Kapitulation bleibt.«
Ich stieß ein kleines, leicht überdrehtes Lachen aus. »Ich versuche das als Kompliment zu betrachten.«
»Würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun.« Seine Stimme hatte wieder ihren gewohnten trockenen Ton angenommen. »Komm her. Du schlotterst ja, und wenn wir ordentlich schlafen wollen, müssen wir warm bleiben.«
Da er darauf bestand, half ich Arian, sich wieder flach auszustrecken. Ich dachte, dass ihm davon vielleicht wieder übel werden würde, doch nach ein paar tiefen langsamen Atemzügen durch die Nase bedeutete er mir, mich neben ihn zu legen. Er schien überrascht, als ich mich, ohne zu zögern, an ihn schmiegte.
»Das kommt mir … bekannt vor«, sagte er vorsichtig.
»Ich hab dich vorhin auch schon warm gehalten«, gab ich zu. »Als du bewusstlos warst.«
Er brummte etwas vor sich hin.
»Was war das?«, fragte ich und überlegte, ob er ernsthaft Das kann ja nur wieder mir passieren gesagt hatte.
»Nichts, nichts«, sagte er. »Halt den Mund und schlaf.«
Vor dem Ende des
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