Frostengel
abgekühlt, dass ich nun auch die Pille in meinen Mund schob.
»Dürfen wir uns in Julias Zimmer umsehen?«, fragte der Polizist. Frau Mechat blickte ihren Mann fragend an, der nickte.
»Würdest du uns begleiten?«, fragte die Beamtin.
Ich stand auf. Auf der Treppe hielt ich mich am Handlauf fest, schleppte mich mehr, als ich ging. Vor Julias Zimmertür blieb ich stehen. Es kam mir falsch vor, in ihr Reich einzudringen, wenn sie nicht da war. Fast hätte ich angeklopft in der Hoffnung, ihre Stimme zu hören, die mich hereinbat. Doch Frau Mechat öffnete die Tür, ging einen Schritt ins Zimmer und ließ die Beamten eintreten. Natürlich war da keine Julia, die bäuchlings auf dem Bett lag und las oder Musik hörte.
Das Zimmer war ein wenig unordentlich, wie immer. Das Bett war gemacht, aber es lagen zwei Hosen und mehrere Oberteile auf der Decke. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Hefte und Ordner für die Schule, ihr Rucksack lag offen neben dem Tisch am Boden, die Federmappe und der Taschenrechner ebenfalls, als hätte sie am Freitag nach der Schule noch Hausaufgaben gemacht.
»Können Sie uns sagen, ob etwas fehlt?«, wandte sich die Polizistin an niemand Bestimmten im Raum.
Frau Mechat trat an Julias Schrank und bat mich mit leiser Stimme, zu ihr zu kommen. »Vier Augen sehen mehr als zwei.«
Ich durchstöberte zögerlich Julias Kleidung. Dabei hatte ich das schon unzählige Male getan. Ich hatte mir häufiger Klamotten von Julia ausgeborgt. Wir waren etwa gleich groß und hatten die gleiche Figur. Während ich mir nur selten etwas Neues zum Anziehen leisten konnte, bekam Julia von ihren Eltern ein großzügiges Taschengeld.
»Was hatte sie gestern an?«, fragte die Beamtin.
Julias Mutter zuckte hilflos die Schultern. »Ich weiß nicht, ich habe sie nicht gesehen, als sie fortging. Da war ich noch geschäftlich unterwegs.« Julias Mutter war Immobilienmaklerin und musste oft auch an den Wochenenden arbeiten.
»Ihre Lieblingsjeans ist nicht da. Und der grüne Pullover«, sagte ich.
»In der Wäsche sind die Sachen auch nicht. Dann wird Julia sie wohl tragen.«
Die Polizistin kritzelte etwas in ihren Notizblock. »Und sonst? Fehlt noch mehr Kleidung? Sieht es so aus, als hätte sie etwas eingepackt?«
Ich schüttelte langsam den Kopf. Nein. Mehr denn je war ich mir sicher, dass Julia nicht einfach abgetaucht war. Ihr war etwas zugestoßen.
»Ich habe, wie Sie mir am Telefon schon geraten hatten, nachgesehen«, sagte Herr Mechat, »sowohl ihre Sparbücher als auch der Reisepass liegen im Safe.«
»Wäre Ihre Tochter da rangekommen?«
»Ja, natürlich. Sie kannte die Kombination.«
Die beiden Beamten wechselten einen sorgenvollen Blick, der mir nicht entging. Auch sie schienen überzeugt, dass Julia nicht weggelaufen war. Ihre Reaktion machte mir noch mehr Angst, als ich ohnehin hatte.
»Wir tun, was wir können. Und wenn Ihnen noch etwas auffällt, dann rufen Sie uns bitte an«, meinte die Polizistin.
»Und was tun Sie, um Julia zu finden?«, wollte Frau Mechat wissen. »Sie haben ihre Daten, Sie haben ein Foto. Geben Sie das an die Presse weiter? Schicken Sie Streifenwagen aus, um sie zu suchen? Wird es eine Suchmannschaft geben? Hunde? Hubschrauber?« Sie begann zu schluchzen. Sofort war Herr Mechat bei ihr und legte seinen Arm um ihre Schultern.
Der Beamte kam seiner Kollegin zu Hilfe. »Noch wissen wir ja gar nicht, was passiert ist. Natürlich werden wir die Dienststellen der umliegenden Polizeistationen verständigen. Alle werden die Augen offen halten. Wir geben die Vermisstenmeldung an die Krankenhäuser. Für die Presse ist es noch zu früh. Außerdem übergeben wir den Fall an die Kriminalpolizei.«
Er überreichte Herrn Mechat eine Visitenkarte. »Bitte rufen Sie an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Oder wenn Julia wieder auftauchen sollte.« Auch ich bekam eine Karte. Ich steckte sie, ohne sie weiter zu beachten, in meine Hosentasche.
»Kriminalpolizei?« Meine Stimme klang unnatürlich hoch in meinen Ohren. Bisher dachte ich immer, die Kriminalpolizei würde nur zugeschaltet, wenn jemand ermordet worden war. Sahen die Polizisten denn schon so wenig Hoffnung, dass Julia wieder heil auftauchen würde?
Die Polizistin lächelte mir aufmunternd zu. »Die kümmern sich üblicherweise um vermisste Personen. Sie haben damit Erfahrung. Du wirst sehen, wenn jemand deine Freundin findet, dann ist das die Kripo.«
Ihre Worte beruhigten mich nicht im Geringsten.
Wir verließen Julias
Weitere Kostenlose Bücher