Frostengel
Erst später schnallte ich, dass er nicht mal gelogen hatte. Meine Mutter hatte tatsächlich einen schlechten Ruf. Seit damals hielt ich mich mehr oder weniger von Jungs fern. Ich wollte ihnen keinen Gesprächsstoff liefern. Dafür sorgte schon meine Mutter mit ihren ständig wechselnden Männerbekanntschaften. Und deshalb reagierte ich auch so allergisch auf Corinnas Freizügigkeiten.
Gerade als ich loswollte, schloss meine Mutter die Wohnungstür auf und wuchtete zwei übervolle Einkaufstüten in die Diele.
»Hilf mir mal«, stöhnte sie.
Ich sah auf die Uhr. Es war bereits nach sieben. Ich würde zu spät kommen. Dennoch nahm ich ihr eine der Papiertüten ab, trug sie in die Küche und begann, sie auszuräumen.
»Ich müsste eigentlich schon weg sein«, sagte ich, während ich die Margarine in den Kühlschrank stellte.
»Du gehst aus?« Meine Mutter hob fragend die Brauen. Sie war es nicht gewohnt, dass ich abends, noch dazu an einem Wochentag, wegging.
Mehrere Antworten lagen mir auf der Zunge. »Ich bin fast volljährig, das geht dich nichts an«, oder »Seit wann interessierst du dich dafür, was ich mache?«, oder auch »Kümmere dich lieber um dich selbst oder wenigstens um Corinna. Damit hast du genug zu tun.« Doch keine sprach ich aus. Stattdessen sagte ich: »Julia ist tot, Mama. Sie haben sie unter der Brücke gefunden. Ich treffe mich gleich mit einer Polizistin.«
Meine Stimme klang belegt, aber ich konnte mir einreden, dass es an der Erkältung lag. Mit großen Augen starrte mich meine Mutter an, als könne sie nicht begreifen, was ich ihr gerade erzählt hatte. »Oh mein Gott! Ich hatte ja keine Ahnung!«
Sie machte Anstalten, mich in den Arm zu nehmen. Mit einer Drehung wandte ich mich zum Tisch und holte Äpfel aus der Tasche.
»Geh nur«, murmelte sie. Ich legte die Früchte in den Obstkorb, entsorgte die Plastikverpackung und wandte mich zur Tür. Mein Blick streifte meine Mutter, die soeben eine Stange Salami in den Kühlschrank räumte und mir nun den Rücken zugedreht hatte. Ich war mir sicher, dass sie sich verstohlen über ihre Augen wischte. Und in diesem Moment liebte ich sie, fast so sehr wie früher.
Natürlich kam ich zu spät. Frau Zauner saß schon an einem Tisch, eine Cola vor sich. Das Glas war bereits zur Hälfte leer. Ihr Blick war auf die Tür geheftet, sodass sie jeden Neuankömmling sofort sah. Wahrscheinlich gewöhnte man sich als Polizist an, sich einen Platz auszusuchen, bei dem man den ganzen Raum überschauen konnte. Selbst wenn man dienstfrei hatte.
Ich wollte schon zu einer Entschuldigung ansetzen, doch sie winkte ab. »Ist okay. Ich habe mich in der Zwischenzeit ein wenig umgeschaut. Hier ist also der Jugendtreff schlechthin.«
»Ja. Hier, im Einkaufszentrum oder im Jour Fix, aber dort waren wir so gut wie nie.« Julia und ich hatten das Jour Fix gemieden, weil sich dort die kaputten Typen trafen. Es hieß, man bekäme dort alles: Heroin, Hasch, Tabletten. Mit der Szene dort hatten wir nichts am Hut.
Frau Zauner nickte. »Das beruhigt mich. Vom Jour Fix hört man nichts Gutes.«
»Warum unternehmen Sie dann nichts dagegen?« Augenblicklich tat es mir leid, dass ich sie so unvermittelt anfuhr. Aber ich vermutete schon länger, dass Corinna sich im Jour Fix herumtrieb, auch wenn sie es mir gegenüber geleugnet hatte, als ich sie letztens darauf ansprach. Es wäre die Sache der Polizei gewesen, dafür zu sorgen, dass Teenies wie meine Schwester ungefährdet in ein Lokal gehen konnten, ohne dass man Angst um sie haben musste.
Frau Zauner blinzelte. »Wer sagt denn, dass wir nichts tun?«
Ich war froh, als der Kellner auftauchte. Er erkannte mich, lächelte und meinte: »Einen grünen Tee und ein Aspirin?«
Wider Willen erwiderte ich sein Lächeln. »Nein, diesmal nicht.« Ich hatte in den letzten Tagen so viel Tee getrunken, dass ich das Gefühl hatte, er käme mir bei den Ohren wieder raus, wenn ich noch mehr davon trinken würde. »Ich nehme ebenfalls eine Cola, bitte.«
Die Polizistin wartete, bis der Kellner mein Getränk gebracht und sich wieder entfernt hatte. Dann fragte sie: »Also, Theresa. Warum sind wir hier?«
Um ein wenig Zeit zu schinden, nippte ich an meiner Cola. Außerdem hatte ich das Gefühl, mein Hals wäre so trocken, dass ich kein einziges Wort herausbringen würde. Ich stellte das Glas ab und sah sie an. »Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll«, sagte ich.
»Am Anfang. Ich habe Zeit.«
27. Januar 2012
Ich habe das Gefühl, die
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