Frostengel
Welt, wie ich sie kenne, stürzt um mich herum ein. Der Fund von Melissas Leiche war nur ein Vorbeben im Vergleich zu dem, was ich gestern erfahren habe. Es war nicht schwierig, unbemerkt an die Patientenakten zu gelangen. Alice, die Sprechstundenhilfe, hatte ein Date mit irgendeinem Schnösel. Ich habe Papa schon früher ein paar Mal ausgeholfen und kenne mich mit dem Ablauf aus. Alice sprach von nichts anderem als von ihrer Verabredung. Also sagte ich zu ihr, sie könne ruhig gehen, ich würde die Stellung halten. Natürlich fragte sie meinen Vater, ob das in Ordnung sei, aber weil nur mehr zwei Patienten im Wartezimmer saßen, hatte er nichts dagegen.
Ich gab Melissas Namen in den Computer ein. Sie war tatsächlich eine Patientin. Eigentlich keine große Sache. Was mich stutzig machte, waren die Daten. Als Kind war Melissa häufiger bei Papa gewesen. Sie hatte Ohrenentzündungen, Windpocken und einmal einen gebrochenen Arm gehabt. Am 18. November 2002 war sie wegen eines hartnäckigen Hustens in Behandlung gewesen, danach klaffte eine Lücke. Erst vor drei Wochen war sie erneut in die Praxis gekommen. In ihrer Akte fand ich eine Adressänderung. Ihre Eltern hatten sich wohl in ihrem neuen Wohnort einen anderen Arzt gesucht.
Und jetzt beginnt es, schräg zu werden. Obwohl Melissa bei ihrem Besuch ihre Adresse bestätigt hatte, entschloss sie sich, meinen Vater zu konsultieren, anstatt zu dem Arzt an ihrem Wohnort zu gehen. Warum? Noch überraschender fand ich die Diagnose: Gravidität. Melissa war in der zehnten Woche schwanger gewesen.
Danach kam sie noch zweimal in die Praxis. Einmal vor etwa zwei Wochen und das zweite Mal am Tag ihres Todes. Beide Male hatte mein Vater bloß »Beratungsgespräch« in seinen Aufzeichnungen vermerkt.
Wenn ich mit irgendjemand darüber reden könnte! Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Mit aller Macht versuche ich, meine Gedanken in andere Bahnen zu lenken, doch sie kreisen ständig um Melissa und ihr Baby. Warum waren sie und Papa zusammen unterwegs? Wäre es nicht logischer, zu dem Arzt im Heimatort zu gehen? Waren ihre Besuche in der Praxis meines Vater etwa bloß ein Vorwand, um ihn zu sehen? Hatte er eine Affäre? Das wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber mit einer Patientin, die bloß zwei Jahre älter war als ich? Weiß Mama davon? War etwa Papa auch der Vater von Melissas Baby?
Ich möchte meinen Vater hassen, doch nicht einmal dafür reichen die Antworten, die ich bisher gefunden habe. Eigentlich habe ich nämlich jetzt noch mehr Fragen als vorher.
Kapitel 7
»Sie müssen verstehen, wie Julia war. Wie sie sich verändert hat.« Die Beamtin nickte mir zu, ermunterte mich zum Weitersprechen. Ich dachte daran, dass ich Corinna versprochen hatte, um zehn zu Hause zu sein. Entweder musste ich den Schnellmodus einschalten und einiges auslassen oder ich würde Corinna gegenüber mein Wort brechen. Ich entschied mich für die erste Variante.
»Vorher hat sie mich immer überallhin mitgeschleift. Sie war die Aktive, die mir in den Hintern trat. Nachdem sie Melissas Leiche gefunden hatte, war sie nicht mehr dieselbe.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. So ein Erlebnis kann einen ziemlich aus der Bahn werfen. Das ist nichts Ungewöhnliches.«
»Das war es nicht. Dafür hatte ich Verständnis. Aber sie sprach kaum mit mir. Verstehen Sie, ich war ihre beste Freundin. Es war so untypisch für Julia. Sie war eine Quatschtante. Sie musste alles belabern, auch wenn es schon längst nichts mehr zu bereden gab. Irgendetwas machte ihr zu schaffen, da bin ich mir ganz sicher. Irgendetwas nagte an ihr und nicht mal mir wollte sie davon erzählen.«
Frau Zauner beugte sich vor, um einen Schluck zu trinken. »Was meinst du, was das gewesen sein konnte?«
»Julia hatte Angstzustände«, fuhr ich unbeirrt fort, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Sie traute sich kaum mehr außer Haus, als würde sie überall Gespenster sehen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich Ihnen davon erzählen soll. Aber ich komme alleine nicht weiter. Warum sollte Julia, wo sie in letzter Zeit Panik davor hatte, alleine das Haus zu verlassen, ausgerechnet um diese Uhrzeit zu dieser Brücke gehen, die nicht einmal auf ihrem Heimweg liegt?«
Frau Zauner legte den Kopf schief. »Du hast recht, das klingt, angesichts dessen, was du mir über Julia erzählt hast, tatsächlich unlogisch.«
Ich nickte. »Eben. Deshalb glaube ich, dass jemand bei ihr war. Dieser Jemand hat sie begleitet. Ich will
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