Frostengel
niemand beschuldigen, sie gestoßen zu haben. Doch ich bin davon überzeugt, dass es einen Zeugen gibt, der genau weiß, was dort passiert ist, und der vielleicht Licht ins Dunkel bringen könnte. Werden denn Unfälle nicht auch untersucht?«
Frau Zauner nickte. »Ja, aber nur, wenn es Ungereimtheiten gibt. Hier scheint die Sachlage klar. Also raus mit der Sprache: Wer ist dieser Jemand? Du kannst mir nicht erzählen, dass du keinen Namen hast.«
Ich schluckte. Wenn ich es aussprach, konnte ich es nicht mehr zurücknehmen. Auch wenn Frau Zauner nicht offiziell als Polizistin vor mir saß, war sie nicht meine Freundin. Sie suchte meinen Blick und hielt ihn fest, als könne sie die Antwort auf ihre Frage in meinen Augen lesen.
Leise antwortete ich: »Leon Thalmayer.«
Die Polizistin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »So? Und wie kommst du ausgerechnet auf ihn? War er Julias Freund?«
Ich schüttelte den Kopf und plötzlich sprudelten die Worte aus mir heraus. »Leon hat uns verfolgt. Nein, Julia hat er verfolgt. Immer tauchte er dort auf, wo Julia war. Im Grätzel sowieso, aber auch im Einkaufszentrum. Gingen wir ins Kino, saß er schon drin. Es war kein Zufall, dass Julia ausgerechnet auf ihn stieß, nachdem sie panisch vor der toten Melissa geflüchtet war. Sie hat mir davon erzählt, wie fürsorglich er ihr gegenüber gewesen war. Ich weiß, dass er auf sie steht … stand. Er glaubt, ich hätte es nicht bemerkt, dass er Julia auf Schritt und Tritt beobachtet, aber das habe ich. Sogar drauf angesprochen hab ich ihn, aber er hat natürlich alles geleugnet.«
Ich dachte schon, Frau Zauner würde mich auslachen, doch sie blieb ernst und fragte: »Dieser Leon ist also ein Stalker?«
War er einer? Ich hatte ihn so genannt, aber ich hatte keine Ahnung, ob man das so offiziell sagen konnte.
»Wenn das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, ausreicht, um ihn so zu bezeichnen, dann ja. Er hat uns nie bedrängt. Julia ist sich nicht mal verfolgt vorgekommen. Sie meinte, es sei klar, dass man sich in unserem Kaff ständig über den Weg läuft.«
»Aber du bist dir sicher, dass das keine Zufälle waren? Stalking ist ein Verbrechen, kein Kavaliersdelikt«, betonte die Polizistin.
»Ja, es war wirklich auffällig. Auch wenn er uns nie direkt angesprochen hat, klebte er wie ein Schatten an Julias Fersen. Es war echt unheimlich. Nur Julia kam sich nicht gestalkt vor. Es war ihr gar nicht bewusst, ich verstehe echt nicht, dass sie das nicht gemerkt hat! Und dann war sie auch noch so nett zu ihm, einmal hat sie ihn sogar hier im Grätzel an unseren Tisch eingeladen!« Ich schnaubte vor Wut. »Über diesen Typen kann ich mich jetzt noch aufregen. Ich meine … was, wenn Leon Julia an dem Abend verfolgt und sie ihm eine Abfuhr erteilt hat? Wenn sie gestritten haben und sie ist deshalb auf dieser Brücke ausgerutscht und gestürzt?« Und ganz leise setzte ich hinzu: »Ich behaupte ja nicht, dass er sie gestoßen hat.«
Eine ganze Weile sagte Frau Zauner nichts. Dann meinte sie: »Gut. Ich werde mit diesem Leon reden. Inoffiziell, so wie mit dir. Vielleicht war er ja tatsächlich in ihrer Nähe und er hat an diesem Abend etwas oder jemanden gesehen.«
»Danke, Frau Zauner«, brachte ich hervor. »Sie werden doch keine Schwierigkeiten bekommen, oder?«
Sie seufzte und zuckte mit den Achseln. »Sei’s drum. Man wird mir schon nicht den Kopf abreißen.«
Ich mochte Karin Zauner. Sie war bereit, sich für mich ins Zeug zu legen, nur weil ich dieses Bauchgefühl hatte. »Warum tun Sie das für mich?«, fragte ich. Noch nie hatte jemand für mich etwas so Uneigennütziges gemacht – mit Ausnahme von Julia.
»Tja, wahrscheinlich, weil mir deine Freundschaft zu Julia imponiert. Ich weiß, dass du nicht lockerlassen würdest.«
Frau Zauner hatte mich nach Hause gebracht, sodass ich pünktlich war. Corinna lag in meinem Bett und hörte Musik, als ich ins Zimmer kam.
Sofort drehte sie den MP3-Player ab. »Und?«
»Diese Polizistin ist total nett. Sie meinte, auch wenn es keine offiziellen Ermittlungen gibt, sie würde sich trotzdem mit ein paar Leuten unterhalten.«
»Ich dachte nicht, dass eine Polizistin so …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, »… cool reagieren würde.«
Ja, ich auch nicht. Aber ich war froh, dass ich mit ihr gesprochen hatte. Es war ein Schritt in die richtige Richtung, ich fühlte es.
Zwei Tage lang wartete ich. Nicht mal im Unterricht schaltete ich mein Handy ab, aus
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