Frostengel
Gedanken, denn jetzt weiß ich, was mir an der Toten aufgefallen ist.
Sie trug Papas Handschuhe.
Es gibt keinen Zweifel, dass es seine waren, weil er die erst zu Weihnachten von mir bekommen hat. Ich habe sie ihm selbst gestrickt. Seit dem Sommer habe ich daran gesessen – und Melissa trug sie, als sie starb.
In der Nacht, als ich mich schlaflos herumgewälzt und immer wieder das Bild der toten Melissa vor mir gesehen habe, ist mir noch etwas eingefallen: Melissa mit Papa in seinem Auto. Ungefähr zwei Wochen muss das her sein. Sie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Er könnte jede Menge Gründe dafür haben, jemanden in seinem Auto mitzunehmen. Doch jetzt erscheint alles in einem anderen Licht – denn warum trug Melissa am Tag ihres Todes ausgerechnet seine Handschuhe???
Ich bin vollkommen durcheinander. Und wenn ich mich irre? Vielleicht war es gar nicht Melissa, die ich mit Papa gesehen habe.
Von einem Tag auf den nächsten hat sich alles geändert. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich kann doch nicht mit Verdächtigungen um mich werfen. Es würde alles schlimmer machen und die Wahrheit würde ich nie herausfinden, denn natürlich würde mir Papa all das ausreden, Mama wäre tief verletzt. Das, was ich brauche, sind Fakten. Beweise. Sosehr ich mir immer herbeigesehnt habe, endlich erwachsen zu sein, so sehr wünsche ich mir jetzt, ich wäre wieder fünf, als ich mir nur darum Gedanken machen musste, ob Theresa im Kindergarten lieber mit mir oder Sabine spielt.
Melissa spukt mir die ganze Zeit über im Kopf herum. Komisch, dass sie mir im letzten Jahr nie aufgefallen ist. Sie hat letzten Sommer ihren Schulabschluss gemacht. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen – auch nicht im Grätzel. Nun, doch. Vor zwei Wochen, in Papas Auto.
Auf jeden Fall weiß ich, was ich am Nachmittag tun werde. Ich besuche Papa in der Praxis. Irgendein Vorwand fällt mir schon ein. Wenn Melissa eine Patientin war, muss es schließlich eine Krankenakte geben. Ich gebe zu, es ist kein ausgereifter Plan, aber irgendwo muss ich ja anfangen.
Kapitel 6
Ich hatte mich in mein Zimmer verzogen und saß an meinem Schreibtisch. Vor mir lag ein aufgeschlagener Block. Darauf hatte ich alles notiert, was ich über Julias Verschwinden und ihren Tod wusste. Auch Dinge, die ich nicht wichtig fand. Man konnte nie wissen, ob unbedeutende Kleinigkeiten sich später nicht als bedeutsam erwiesen.
Der Zettel war erst zur Hälfte vollgeschrieben. Nicht besonders viel. Ich notierte meine Eindrücke von der Brücke und betrachtete meine bisherigen Erkenntnisse.
Ich war mir mittlerweile sicher, dass Julia einen anderen Weg gewählt hätte, wenn sie sich hätte umbringen wollen. Immerhin war ihr Vater Arzt und es wäre wahrscheinlich ziemlich leicht für sie gewesen, an seinen Medikamentenschrank zu kommen. Sie hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten – mit Erfolg, weil sie wusste, wie man das richtig anstellen musste. Aber niemals wäre sie von einer Brücke gesprungen, die gerade mal hoch genug war, um sich ein paar Knochenbrüche zu holen. Warum war sie überhaupt zu dieser Brücke gegangen, mitten in der Nacht? Wie war sie nach Kleinhardstetten gekommen, wenn nicht mit dem Bus? Zu Fuß? Unvorstellbar für mich. Sie hatte sich ja kaum alleine aus dem Haus getraut. Und da sollte sie im Finsteren, bei der Kälte, ohne Begleitung den ganzen Weg gegangen sein, in eine völlig falsche Richtung? Warum war Julia überhaupt im Grätzel? Sie wusste, dass ich nicht dabei sein konnte. Weil ihr die Decke auf den Kopf zu fallen drohte oder sie einfach nur Lust hatte, wieder auszugehen? Vielleicht wollte sie endlich wieder etwas ganz Normales tun und nicht über Melissa nachdenken.
Ich wusste, dass Julia sich verändert hatte, nachdem sie über diese Leiche gestolpert war. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie klagte über Schlaflosigkeit. Sie war ängstlich, zuckte grundlos zusammen, wenn jemand sie ansprach und sie aus ihren Gedanken riss.
Sie war immer schon eine Träumerin gewesen, doch in den letzten Wochen schien es, als wäre sie ständig mit den Gedanken woanders, abwesend. So als würde sie vor der Realität flüchten.
Ich hatte versucht, sie ins Hier und Jetzt zurückzuholen, hatte ihr gut zugeredet, sich mal wieder zu verabreden. Offenbar hatte sie meine guten Ratschläge beherzigt – und hatte es mit ihrem Leben bezahlt. Ich schluckte. Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, sodass
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