Frostengel
ich plötzlich keine Luft mehr bekam. Wütend, weil ich nicht schon wieder weinen wollte und weil Schuldgefühle mir bestimmt nicht weiterhelfen würden, mehr über Julias Tod zu erfahren, suchte ich in meinen Hosentaschen nach einem Taschentuch. Meine Fingerspitzen berührten Papier. Doch es war kein Taschentuch, das ich hervorzog, sondern die Visitenkarte, die ich von dem Polizisten bekommen hatte, als ich bei Julias Eltern gewesen war.
Ich starrte auf die Ziffern. Zwei Telefonnummern standen da. Die des Mannes und die der Beamtin. Wie von selbst griff ich zu meinem Handy und wählte die zweite Nummer, die auf der Karte stand. Sie war mir sympathischer gewesen. Hirn ausschalten, befahl ich mir, während ich darauf wartete, dass sich jemand meldete. Nur nicht nachdenken, sonst hätte ich gleich wieder aufgelegt.
»Zauner«, ertönte die Stimme der Polizistin. Ich räusperte mich, um Zeit zu gewinnen.
»Wer ist dran?«
»Theresa«, antwortete ich zaghaft.
»Theresa Kleistner? Die Freundin von Julia Mechat?«
»Ja«, antwortete ich. Mehr brachte ich nicht heraus.
»Ich wollte dir sagen, dass es mir sehr leid um deine Freundin tut.«
»Danke.«
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Nein. Auch sie konnte mir Julia nicht wieder zurückbringen. Aber das sagte ich ihr nicht. Stattdessen fragte ich, was mit Julias Körper geschehen war.
»Nachdem sie abtransportiert wurde, meinst du?«
»Genau. Ich will wissen, wo sie jetzt ist.«
»Also, jetzt ist sie noch im Gerichtsmedizinischen Institut, wo sie obduziert wurde, um herauszubekommen, woran sie genau gestorben ist. Der Gerichtsmediziner ist fertig und ihre Leiche wurde freigegeben, damit sie beerdigt werden kann.«
»Und was hat der Gerichtsmediziner gefunden?«, wollte ich wissen. Irgendwie stellte sich bei mir das Gefühl ein, in einem komplett falschen Film zu sein. Ein Gefühl der Unwirklichkeit, als würden wir nicht über Julia, sondern über eine wildfremde Person sprechen. Anders hätte ich keinen Satz herausbekommen.
»Nun, wie es aussieht, war es definitiv ein Unfall. Sie hatte Abschürfungen an den Handflächen, die davon zeugen, dass sie sich festhalten wollte. Es war kein Selbstmord.«
Das wusste ich. Ich hatte es die ganze Zeit gewusst. Trotzdem tat es mir gut, es bestätigt zu bekommen.
»Und wenn es auch kein Unfall war?« Die Worte kamen aus meinem Mund, zu spät sie zurückzunehmen.
Die Beamtin seufzte. »Was meinst du damit?«
Ich atmete tief durch, denn mir war klar, dass ich möglicherweise einen Stein ins Rollen brachte. Wollte ich das überhaupt? Ja, dachte ich. Ja.
»Ich finde es seltsam, dass Julia bei dieser Brücke war. Sie liegt nicht auf ihrem Weg nach Hause, warum sollte sie also dorthin gegangen sein. Und das so spätabends? Vielleicht hat sie sich dort mit jemand getroffen, vielleicht hat sie wer dorthin gebracht. Vielleicht …«
Frau Zauner unterbrach mich. »Theresa, ich versteh ja, dass du durcheinander bist. Und ich verstehe, dass du Antworten suchst. Aber es war ein Unfall«, sagte sie mit Nachdruck. Ihre Stimme klang beschwörend, so als wolle sie mir nahelegen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Während ich mich meist auf meinen Verstand verließ, war Julia ein Gefühlsmensch gewesen. Sie sah wen an und wusste sofort, ob sie den mochte oder nicht. Ich hingegen wog positive gegen negative Eigenschaften ab. Sie handelte spontan nach ihrem Bauchgefühl, ich überlegte zuerst, bevor ich mich für oder gegen etwas entschloss. Doch jetzt meldete sich auch in mir ein Bauchdrücken. Und es sagte mir, nein, es schrie mir zu, dass das hier kein simpler Unfall gewesen war. Und wenn, dann musste es einen Zeugen dafür geben. Oder einen Täter.
»Heißt das, Sie tun gar nichts mehr? Es interessiert außer mir niemanden, ob Julia vielleicht gestoßen wurde?«
Die Beamtin stieß hörbar die Luft aus. Merklich distanzierter als vorhin sagte sie: »Du sprichst gerade eine unglaubliche Beschuldigung aus. Ist dir das bewusst? Weißt du mehr, als du uns gesagt hast? Wenn dem so ist, dann solltest du schnurstracks zu mir aufs Revier kommen und mir alles erzählen.«
»Möglicherweise gibt es tatsächlich etwas, das Sie wissen sollten. Und weil ich nicht einschätzen kann, ob es wichtig ist, könnten Sie es sich nicht erst mal inoffiziell anhören und dann entscheiden, was Sie mit den Informationen anfangen?« Ich biss mir gespannt auf die Lippen.
Ich hörte sie durchs Telefon atmen. Ein Weile schwieg sie. »Heute nach
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