Frostengel
Dienstschluss, halb acht. Wo?«, sagte sie schließlich.
»Wir könnten uns im Grätzel treffen. Dort bin ich mit Julia immer hingegangen.«
»Soll mir recht sein. Dorthin wollte ich eh schon oft, aber in meinem Alter ist man da ja eher fehl am Platz. Mit dir als Begleitung hab ich eine tolle Ausrede. Also, dann bis später?«
»Ja, bis später.« Ich legte auf und fühlte mich gleich ein wenig besser.
Ich sah auf die Uhr. Halb fünf. Ein wenig Zeit blieb mir noch. Ich wollte nicht unvorbereitet zu meinem Gespräch mit Frau Zauner gehen.
Dass Corinna zu Hause war, merkte ich erst, als sie in meiner Tür stand. Sie wusste, dass ich es hasste, wenn sie einfach so in mein Zimmer platzte. »Kann ich reinkommen? Ich habe geklopft, aber du hast mich nicht gehört«, sagte sie. »Ich hab das von Julia erfahren.«
Mir war klar, dass die Nachricht von Julias Tod schnell die Runde machen würde. Wahrscheinlich gab es in ganz Kleinhardstetten keinen anderen Gesprächsstoff.
Meine Schwester legte ihre Arme um mich und lehnte ihren Kopf auf mein Haar. »Es tut mir so leid. Ich mochte sie echt gern.«
Ja, Julia hatte Corinna ebenfalls gern gehabt. Manchmal war ich fast eifersüchtig gewesen, weil sie zu Corinna einen besseren Draht gehabt hatte als ich. Weil meine Schwester mehr auf Julia gehört hatte als auf mich.
»Vom wem hast du es erfahren?«, fragte ich. »Und was genau?«, setzte ich nach. Ich wollte keinesfalls, dass Corinna irgendwelche blöden Gerüchte glaubte.
»In der Schule reden sie von nichts anderem. Unser Stufenleiter hat es uns schon in der Früh gesagt. Er meinte, ihre Leiche wurde bei der Brücke gefunden. Manche in meiner Stufe denken, sie sei gesprungen, aber ich hab denen gleich gesagt, dass sie das nicht getan hätte. Das stimmt doch, oder?«
Meinen Kopf an ihren Bauch gedrückt, murmelte ich: »Ja, das stimmt. Julia hatte einen Unfall, heißt es.«
»Kann ich heute bei dir schlafen?«, fragte Corinna. Ich blickte sie verwundert an. Ich sah die Bitte in ihren Augen – und noch etwas anderes. Sie hatte Angst.
»Okay. Aber ich muss noch mal weg. Spätestens um zehn bin ich wieder da.«
»Wohin gehst du? Kann ich nicht mit?«
Woher kam plötzlich dieses Klammern? »Nein, kannst du nicht. Erstens wird es zu spät für dich und zweitens treffe ich mich mit einer Polizistin, die mir hoffentlich ein paar Fragen zu Julias Tod beantworten kann.«
Corinna löste ihre Arme von mir und trat einen Schritt zurück. »Erzählst du mir nachher davon?«
»Klar. Und jetzt solltest du noch deine Hausaufgaben machen.«
Ohne zu murren, verließ Corinna mein Zimmer. Ich konnte mir vorstellen, was in ihr vorging. Ich fühlte mich mindestens genauso miserabel. Vermutlich sah ich aus wie ein enormer Riesenhaufen Elend. Corinna war eigentlich jemand, der Dinge schnell verdrängte, weil es einfacher war, als sich ernsthaft mit etwas auseinanderzusetzen. Aber nun war ihr bewusst geworden, dass der Tod nicht nur Greise und Kranke traf. Schlimme Dinge passierten eben nicht immer nur den anderen. Wie oft hatten wir darüber gestritten? Wie oft hatte ich versucht, sie vor zu viel Leichtsinn zu warnen – und wie oft hatte sie meine Warnungen in den Wind geschlagen und mich ausgelacht? Doch jetzt hatte sie gemerkt, dass unsere Jugend uns nicht automatisch vor dem Tod, vor Verletzungen schützte. Klar, dass ihr das Angst einjagte. Ich hoffte, ihre Nachdenklichkeit würde noch eine Weile anhalten.
Um halb sieben überlegte ich, was ich anziehen sollte. Ich war fast aufgeregter als bei meinem ersten Date. Hoffentlich würde dieses Treffen nicht in einem ähnlichen Desaster enden wie damals. Mike wurde er von allen genannt, weil das cooler klang als Michael. Er fragte mich in der Mittagspause, ob wir uns abends im Kino treffen wollten. Ich war dreizehn und ziemlich unbedarft, was Jungs anging. Julia redete mir zu. Sie meinte, mit Mike auszugehen, wäre wie ein Lottosechser. Alle Mädchen hätten einiges dafür gegeben, mit ihm ins Kino zu gehen. Mir gefiel er nicht mal besonders, aber ich wollte vor den anderen nicht blöd dastehen. Also sagte ich zu. Der Film hatte noch nicht mal angefangen, da grapschte er mir schon unters T-Shirt. Ich fragte ihn, was das soll. So hatte ich es mir echt nicht vorgestellt. Da sagte er, er dachte, ich sei leicht zu haben, wo doch meine Mutter ein Flittchen wäre. Ich scheuerte ihm eine. Gebührt hätten ihm eigentlich zwei Ohrfeigen. Eine fürs Anfassen und die andere für seinen Spruch.
Weitere Kostenlose Bücher