Frostengel
Mama heimlich weinte, mir fiel auf, dass mein Vater ziemlich häufig unterwegs war. Meine Eltern sprachen kaum miteinander und wenn, dann so übertrieben höflich, dass selbst ein Idiot gemerkt hätte, dass zwischen den beiden was nicht stimmt. Schließlich habe ich die beiden dann eines Nachts belauscht, als Mama meinem Vater sagte, sie halte das nicht mehr länger aus. Er solle sich endlich entscheiden. Für oder gegen uns. Ich habe mich wieder in mein Zimmer geschlichen und die halbe Nacht geheult. Aber Theresa habe ich hinterher nur erzählt, meine Eltern hätten Zoff miteinander. Alles, was ich zu der Zeit erlebte, war nichts im Vergleich zu ihren eigenen Problemen. Selbst wenn mein Vater tatsächlich ausgezogen wäre – ich hätte immer noch Mama gehabt, während Tessa sich auf ihre wieder einmal nicht verlassen konnte. Nicht nur das, sie musste sich außerdem auch noch um Corinna kümmern. Ziemlich viel Verantwortung für eine damals Fünfzehnjährige.
Und weil sie nichts von der Affäre meines Vater damals weiß, wäre es schwierig, ihr klarzumachen, dass mein Vater kein Held ist. Sie hat ihn auf ein Podest gestellt, wahrscheinlich weil sie keinen Vater hat. Sie würde nicht glauben, dass er was mit Melissa hatte. Nicht wenn sie von der Vorgeschichte nichts weiß.
Ein paar Lehrer, von denen ich wusste, dass Melissa bei ihnen ihre Abschlussarbeiten geschrieben hat, habe ich auch nach ihr gefragt. Schließlich verbringt man in der Vorbereitungszeit viel Zeit miteinander, es hätte sein können, dass einem etwas aufgefallen ist. Ich erwartete, dass sie mich komisch ansehen oder mir sagen würden, ich solle mich um meinen Kram kümmern. Ich war aber echt erstaunt, dass alle Lehrer Verständnis für mein Interesse an Melissa zeigten. Sie hofften wohl auch, ich versuche, mein Trauma zu bewältigen, indem ich mich damit beschäftige. Und ausgerechnet von Steinmenger, dem coolsten unserer Lehrer, bekam ich den Rat, ich müsse die Sache auf sich beruhen lassen und mein Leben weiterleben. Er bot mir ein längeres Gespräch an, wenn ich nicht mehr klarkäme. Schließlich ist er Vertrauenslehrer. Vielleicht sollte ich das wirklich machen. Vertrauenslehrer dürfen doch niemandem etwas weitersagen, oder? Ist das, als würde man bei einem Priester die Beichte ablegen? Blöd, danach habe ich vergessen zu fragen, aber egal, wenn ich ihn das nächste Mal sehe, kann ich das nachholen.
Jedenfalls erfuhr ich von der ehemaligen Franzelehrerin von Melissa den Namen von Melissas bester Freundin, die in Graz studiert. Es war nicht schwer, Tanjas Telefonnummer herauszufinden. Tanja gab zu, dass Melissa zwei Seiten hatte. Neben der braven, strebsamen Schülerin, von der alle meinten, sie könne kein Wässerchen trüben, gab es noch eine andere Seite an ihr. Melissa habe einen Freund gehabt – und zwar ausgerechnet Leon. Wer hätte das gedacht! Warum hat er mir das nicht längst erzählt? Obwohl, ich verstehe sogar, dass er nichts gesagt hat. Zuerst muss er total geschockt gewesen sein – und außerdem kannten wir uns kaum. Und später dachte er wohl, es würde komisch wirken, dass er nicht gleich was gesagt hat. Kommt mir bekannt vor. Da geht es ihm wie mir mit Theresa.
Wie auch immer, jedenfalls war Tanja sicher, dass Melissa Leon den Laufpass gegeben hatte – und zwar kurz nach seinem Unfall, weil sie sich in jemand anderen verliebt hatte. Diese Beziehung dürfte ziemlich ernst gewesen sein, doch Melissa hatte sich bedeckt gehalten. Tanja vermutete, er sei verheiratet gewesen, weil Melissa so ein Geheimnis um ihn machte.
Ich fragte, wann sie das letzte Mal mit Melissa gesprochen hätte, und sie meinte, etwa zwei, drei Wochen vor ihrem Tod. Melissa hat sie angerufen und ihr von ihrer Schwangerschaft erzählt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und hatte wohl niemand anderen, dem sie sich anvertrauen konnte.
Sie riet ihr, mit dem Vater des Kindes zu reden. Und mit ihren Eltern. Sie müsse sich klar darüber werden, ob sie das Baby behalten wolle. Danach hatte sich Melissa nicht mehr bei ihr gemeldet.
Ich fragte Tanja, ob sie wisse, dass Melissas Tod Selbstmord gewesen war. Und da sagte sie etwas zu mir, das ich niemals vergessen werde: »Wenn du meine Meinung hören willst, hat der Vater ihres Kindes sie ermordet, und zwar genauso als hätte er sie erwürgt oder ihr mit ’nem Messer die Kehle aufgeschlitzt. Sie hat wahrscheinlich meinen Rat befolgt und ihm von dem Kind erzählt – und er? Das Schwein wird mit ihr
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