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Frostengel

Frostengel

Titel: Frostengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamina Berger
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bedankte mich. War doch gar nicht so schlimm gewesen, dachte ich. Den Rest des Weges schwieg ich, sah zum Fenster raus und dachte nach. Julia hatte vorgehabt, den Bus zu nehmen, doch irgendetwas hatte sie davon abgehalten. Oder irgendwer. Vor meinem inneren Auge tauchten zwei Gesichter auf. Das des unbekannten Mannes vor der Busstation gestern und eins, das um einiges jünger war. Eines das, ich kannte. Leons. Mist! Ich hätte ihn fragen sollen, ob er Auto fahren konnte. Wie auch immer ich das in ein Smalltalk-Thema verpackt hätte …
    Der Bus bog in die Straße unserer Schule ein. Ich sah auf die Uhr. Zwanzig vor acht. Zeit, in meine Klasse zu gehen, die Sachen für den Unterricht zu holen und mit Leon ein paar harmlose Worte über Autos zu wechseln.
    Doch Leon kam nicht und ich malte mir alles Mögliche aus, warum er vom Unterricht fernblieb. Vielleicht hatte ich ihn angesteckt und er lag nun mit Grippe im Bett.
    Erst als Wennecker, unser Deutschlehrer und Stufenleiter, die Abwesenden ins Kursbuch eintrug und erwähnte, dass Leon heute seine Physiotherapiestunde hatte, fiel es mir wieder ein. Jeden Freitag kam Leon erst zum Nachmittagsunterricht. Das war schon seit Schulanfang so. Warum war ich da bloß nicht von allein draufgekommen? Detektivspielen war eindeutig nicht meine Stärke, oh Mann!
    Wennecker legte den Kugelschreiber auf den Tisch und sah uns abwartend an. Wir kannten diesen Blick. Er wollte uns etwas sagen, würde aber erst sprechen, wenn es ruhig war – und weil unsere Neugier in der Regel größer war als das Bedürfnis, mit unseren Sitznachbarn zu tratschen, hatte er mit dieser Methode jedes Mal Erfolg. Ich hatte schon oft gedacht, dass er diese Taktik patentieren lassen sollte. Sie wirkte besser, als hätte er »Ruhe!« gebrüllt, so wie der Müller es gerne tat.
    Als er das Gefühl hatte, dass wir alle ihm ausreichend Aufmerksamkeit schenkten, sagte er: »Am Montag wird Julia beerdigt. Ich werde keinen zwingen, bei der Trauerfeier anwesend zu sein, aber ich würde mich freuen, wenn alle dabei wären. Zehn Uhr am Friedhof, Osteingang. Wir warten alle zusammen, bevor wir geschlossen reingehen. Ich werde für jeden von euch eine gelbe Rose besorgen, die ihr auf ihren Sarg legen könnt. Und bitte …«, er fixierte Jan, der ein Stück den Stuhl hinunterrutschte, weil er genau wusste, dass er angesprochen war, »… zieht keine zerrissenen Jeans an, wenn’s geht.«
    »Weiße«, murmelte ich halb laut vor mich hin.
    »Wie bitte?«, fragte Wennecker und musterte mich freundlich. Er hatte mich in den letzten Tagen mit Samthandschuhen angefasst, hatte mich gleich nach Julias Tod zur Seite genommen und mir angeboten, ich könne jederzeit zu ihm kommen, wenn ich das Bedürfnis hätte, mit jemandem zu reden. Ich glaube, er wusste auch, dass bei mir zu Hause nicht alles ganz so war, wie es hätte sein sollen. Keine Ahnung, woher er diese Informationen hatte. Von mir nicht. Ich bemühte mich, möglichst wenig aufzufallen und den Anschein von Normalität zu wahren.
    »Was hast du gerade gesagt, Theresa?«, fragte er noch einmal.
    Ich zuckte zusammen, als er mich ansprach. In letzter Zeit schweiften meine Gedanken häufig ins Nirgendwo ab.
    »Es müssen weiße Rosen sein«, sagte ich. Julia mochte keine gelben Rosen, weiße dagegen liebte sie.
    Er nickte. »Gut! Dann weiße.«
    Die Hälfte der Stunde unterhielten wir uns über Blumen und die Bedeutung ihrer Farben. Das heißt, die anderen sprachen darüber – ich beteiligte mich nicht. Ich hörte nicht mal zu. Julia würde in drei Tagen in der Erde verscharrt werden. Schon der Gedanke daran rief Übelkeit in mir hervor. Tief und dunkel – Julia hatte die Dunkelheit nicht gemocht. Sie war ein Lichtmensch gewesen, ein Sonnenkind. So hatte sie sich selbst bezeichnet. Und nun sollte sie alle Zeit in der Finsternis verbringen. Rosen würden es auch nicht besser machen, egal ob gelbe oder weiße.
    Ich wusste, wie irrational meine Gedankengänge waren. Julia war jenseits davon, etwas zu fühlen, weder Angst vor dem Dunkeln noch Freude über weiße Rosen. Insofern war es lächerlich, auf Weiß zu bestehen. Und seltsamerweise war genau das der Gedanke, der mich tröstete – dort wo sie jetzt war, wo auch immer das sein mochte, würde ihr nie wieder jemand wehtun, sie musste sich nie mehr vor etwas fürchten.
    7. Februar 2012
    Ich habe Leon auf seine Beziehung mit Melissa angesprochen. Ich dachte, vielleicht würde er dazu beitragen können, etwas herauszufinden, was

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