Frostengel
Schluss gemacht haben. Oder er wollte sie zu einer Abtreibung zwingen. Das hat sie getötet!«
Ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt von Tanja verabschiedet, geschweige denn bedankt habe – denn das Einzige, woran ich denken konnte, war, dass mein Vater dieser Jemand gewesen sein musste – was wollte sie sonst in seinem Auto? Warum kam sie tatsächlich nach Kleinhardstetten, wo sie doch 30 Kilometer weiter weg wohnte und es bei ihr in der Nähe einen Arzt gab. Mein Vater war ja nicht einmal Gynäkologe, was wollte sie also von ihm?!
Soll ich Mama davon erzählen? Soll ich meinen Vater damit konfrontieren? Ich kann doch nicht so tun, als wüsste ich von nichts. Und doch saß ich heute früh am Frühstückstisch und reichte meinem Vater die Butterdose, bat meine Mutter um die Milch und aß zwei Brötchen, als würde meine Welt nicht gerade aus den Fugen geraten. Ich glaube fast, Vaters Schauspieltalent hat sich auf mich vererbt.
Eine halbe Stunde später kotzte ich im Klo mein Frühstück wieder raus.
Das Mittagessen ließ ich entfallen und erzählte meiner Mutter, ich hätte mir den Magen verdorben. Sie brachte mir dann eine Tasse Kräutertee in mein Zimmer.
Mittlerweile ist der Tee kalt geworden, dunkle Flecken schwimmen auf der Oberfläche. Die Tasse steht unberührt vor mir, denn Kräutertee hilft nicht gegen die Ohnmacht, die in mir brodelt. Melissa war erst 19.
Kapitel 10
Ich wartete nicht bewusst auf meine Mutter, aber ich konnte nicht schlafen. Immer wieder musste ich an den Mann bei der Busstation denken. Er war mir unheimlich gewesen. Er hatte zu mir hergesehen, hatte mich gegrüßt, mich fotografiert. Doch warum? Theresa, du siehst Gespenster. Wahrscheinlich war er bloß ein harmloser Fußgänger, der den Park vor der Haltestelle geknipst hatte. Vielleicht hatte er mich mit jemandem verwechselt. Oder er war ein Perverser, der junge Mädchen beobachtete. Und wenn er schon Julia ausspioniert hatte? Wie sonst sollte ich dieses komische Gefühl erklären, das mich bei seinem Anblick überkommen hatte? Alles in mir hatte förmlich »Gefahr« geschrien. Theresa, mahnte ich mich, du solltest aufhören, jeden, der dir über den Weg läuft, mit Julia in Verbindung zu bringen. Doch ich konnte es mir nicht schönreden. Dieser Mann hatte mich angestarrt, fotografiert. Der Schal, hinter dem er sein Gesicht verbarg, dass man so gut wie gar nichts von ihm erkennen konnte, machte ihn nicht unwirklicher. Mochte sein, dass ich seit Julias Tod überall das Böse sah, aber verdammt, vielleicht war Julia zu vertrauensselig gewesen und war zu jemandem ins Auto gestiegen. Möglicherweise hatte ihr das ihr Leben gekostet. War es da so verwerflich von mir, achtsam zu sein?
Mein Blick wanderte zum Wecker, als ich die Wohnungstür hörte. Es war kurz nach Mitternacht. Meine Mutter war heimgekommen. Für ihre Verhältnisse gar nicht so spät.
Ich lauschte auf ihre Schritte und hasste mich dafür. Nein, ich hasste sie dafür, weil sie mich dazu brachte, ewig misstrauisch zu sein. Ich hörte sie im Badezimmer kramen. Wahrscheinlich schminkte sie sich ab und putzte sich die Zähne. Alles klang normal. Mit einem Seufzen drehte ich mich zur Seite. Wie war unser Leben nur dermaßen aus der Bahn geraten? Weshalb brauchte sie Alkohol mehr als ihre Familie? Wieso hatte sie ständig das Gefühl, ohne Mann nur eine halbe Person zu sein?
Über diese Fragen musste ich eingeschlafen sein, denn erst der Wecker schreckte mich aus dem Schlaf. Im ersten Augenblick wusste ich nicht, wo ich war. Ich hatte geträumt, ich saß in Julias Zimmer auf ihrem Bett. Julia lief auf und ab und ließ sich nicht dazu bewegen, sich endlich hinzusetzen. »Ich such was!«, sagte sie in einem fort. Doch auf meine Frage, was sie denn so verzweifelt suche, gab sie mir keine Antwort. Stattdessen stellte sie ihr Zimmer auf den Kopf und es sah aus, als hätte ein Orkan darin gewütet.
Jetzt, wo ich so abrupt aus meinem Schlaf gerissen worden war, hatte ich immer noch das Gefühl, ich müsse ihr beim Suchen helfen.
Ich zog mich an, bevor ich Corinna weckte. Im Badezimmer wunderte ich mich über die laufende Waschmaschine. Noch mehr wunderte ich mich über den fertigen Kaffee in der Küche und über meine Mutter, der man nicht ansah, dass sie spät heimgekommen war. Sie lächelte und deutete auf die Kaffeemaschine.
»Nimm dir! Ich bin gleich weg. Heute komme ich früher nach Hause und koch uns was Schönes.«
Ich sah ihr mit offenem Mund hinterher, als sie ihre
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