Frostengel
dachte ich die ganze Zeit darüber nach, was genau ich angeblich nicht verstand. Dass sie unerlaubt ihre Freunde eingeladen hatte? Es war ja nicht so, dass wir niemand mit nach Hause bringen durften – aber gleich ein ganzes Rudel Mitschüler? Doch darum ging es mir nicht einmal. Mir ging es um die leeren Weinflaschen und um diesen Timo. Plötzlich bekam ich einen Riesenkloß im Magen. Vielleicht verstand ich Corinna wirklich nicht – in vielen Dingen war sie anders als ich. Konnte ich ihr meinen Weg aufzwingen? Aber ich sah doch, wo sie hinsteuerte. Meine Mutter, ein schwangerer Teenager. Melissa, ebenfalls schwanger und tot – und da sollte ich nicht auf sie aufpassen dürfen?
Das Staubsaugergeräusch erstarb. Ich stand auf und ging zu meiner Schwester. Legte ihr meine Hände auf die Schultern, doch sie schüttelte sie ab. »Manchmal glaube ich, du bist schon alt geboren worden. Musst du immer alles verderben? Alles, was Spaß macht?« Sie fing an zu weinen.
Ich ergriff ihre Oberarme und drehte sie zu mir um. »Corinna, sieh mich an!«
Sie schniefte, sah aber dann mit mascaraunterlaufenen Augen auf.
»Für diesen ›Spaß‹, wie du es nennst, bist du einfach noch nicht alt genug. Ich habe die Weinflaschen gesehen. Scheiße, Corinna, sieh dir unsere Mutter an! Willst du unbedingt in ihre Fußstapfen treten? Und Timo: Warum kann er nicht warten, bis ihr euch besser kennengelernt habt? Was ist, wenn du mit ihm schläfst und zwei Wochen später macht er Schluss mit dir? Wenn er zwar deine große Liebe ist, aber du nicht seine? Oder du verliebst dich in jemand anderen. Abgesehen davon – was ist, wenn du schwanger wirst? Sex zu haben, ist eben nicht nur einfach ›Spaß‹.«
Corinna seufzte. »Vom Wein hab ich nichts getrunken, ehrlich. Ich wusste nicht mal, dass ihn jemand mitgebracht hatte. Und was Timo angeht, ich bin doch nicht blöd. Es gibt Verhütungsmittel. Manchmal denk ich, du lebst auf dem Mond. Nur weil du eine alte Jungfer bist, heißt das nicht, dass ich auch eine werden muss.«
Das hatte gesessen. Ich ließ Corinna los. »Und du tust so, als würdest du morgen nicht mehr erleben! Du. Hast. Noch. Zeit!«
Ihr Blick, den sie mir zuwarf, war voller Zweifel. Plötzlich verstand ich alles.
4. Februar 2012
Gestern ist was Komisches passiert. Ich hatte den Eindruck, jemand beobachtet mich. Aber sooft ich mich auch umdrehte, da war niemand. Vielleicht hat Theresa doch recht damit, wenn sie sagt, Leon verfolgt mich. Aber das kann ich nicht glauben. Warum sollte er das tun? Seit ich Melissas Leiche gefunden habe und er mir zur Seite stand, reden wir hin und wieder miteinander. Ich weiß sicher mehr über ihn als andere. Leon hat mir anvertraut, dass er bei dem Unfall damals fast gestorben wäre. Es hat ihn ein ganzes Schuljahr gekostet, sich wieder aufzurappeln, aber er hat überlebt. Sein Bruder nicht. Es muss furchtbar sein, jemanden zu verlieren, den man liebt. Auf jeden Fall meinte er, seine Wohnung, um die wir ihn alle total beneiden, habe seinem Bruder gehört und er sei nur eingezogen, weil er dort das Gefühl hat, seinem Bruder näher zu sein. Ich habe ihn gefragt, ob der Unfall ihn stark verändert hat. Solch ein Erlebnis geht ja nicht spurlos an einem vorbei – so wie Melissas Tod auch an mir Spuren hinterlässt – und er sagte, früher wäre er ganz anders gewesen. Das stimmt. Ich kann mich erinnern, dass er ein ziemlicher Checker war, aber da kannte ich ihn noch nicht so gut, er wirkte so überheblich. Heute ist er weder ein Checker noch überheblich.
Wie werde ich mich verändern? Werde ich vielleicht paranoid nach der Sache mit Melissa? Hat der Wandel schon eingesetzt? Das will ich nicht und ich werde dagegen ankämpfen. Ich will nicht überall Gespenster sehen. Bestimmt habe ich mir nur eingebildet, beobachtet worden zu sein.
Ich habe inzwischen mit weiteren Leuten gesprochen, die mit Melissa zu tun hatten. Tessa war dabei, nachdem ich sie bekniet hatte, mich zu begleiten. Sie meint, ich soll mich wegen Melissa nicht fertigmachen, aber sie weiß ja nicht, warum ich all diese Nachforschungen anstelle. Doch ich bring einfach nicht den Mut auf. Sie hat sich beschwert, dass ich kaum mehr mit ihr rede. Daran kann ich nichts ändern, nicht mal ihr zuliebe. Denn dann müsste ich ihr alles erzählen. Auch von der Affäre meines Vaters vor zwei Jahren. Und wie soll ich ihr erklären, dass ich ihr damals nichts davon gesagt hab? Dabei habe ich es auch mehr geahnt als gewusst. Ich merkte, dass
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