Frostengel
ich noch nicht wusste.
Zuerst druckste er herum, als wolle er nicht über diesen Teil seiner Vergangenheit sprechen. Jetzt, wo ich weiß, was passiert war, verstehe ich es – und auch, warum er mir nicht schon eher davon erzählt hat.
Leon und Melissa waren vor seinem Unfall über ein halbes Jahr zusammen gewesen. Er hielt es auf ihren Wunsch hin geheim. Melissa wollte nicht, dass ihre Eltern von ihm erfuhren. Sie trafen sich meist an abgelegenen Orten, wo sie sicher sein konnten, dass sie niemand sah. Leon wurde das schließlich zu blöd. Er wollte sich nicht länger verstecken müssen und drängte Melissa dazu, ihn endlich ihren Eltern vorzustellen. Melissa hatte offenbar Angst davor. Eines Nachmittags, am Tag seines Unfalls, gab es Krach deswegen – sie machte Schluss mit ihm. Leon war am Boden zerstört. Wahrscheinlich war das die Ursache für das Unglück, vielleicht war es aber auch Zufall, obwohl ich das nicht glaube.
Das letzte Mal hatte er sie im Krankenhaus gesehen. Sie besuchte ihn, weil sie ihn um Verzeihung bitten wollte. Es läge nicht an ihm, versicherte sie Leon, sie habe jemand anderen gefunden, ihre große Liebe. Ihr neuer Freund war wesentlich älter als sie, gestand Melissa. Wegen des Altersunterschieds sei es ihm ebenfalls ganz recht, wenn niemand von ihrer Liebe erfuhr. Seitdem hatte Leon sie nicht mehr gesehen, bis zu dem Tag, als ich ihre Leiche fand. Da erkannte er, dass die Tote Melissa war. Der Anblick war für mich schon schwer zu verkraften gewesen. Um wie viel schlimmer musste es für ihn gewesen sein?
Leon ist ganz anders als die restlichen Jungs in meiner Stufe. Im Einkaufszentrum habe ich ihn Tessa gegenüber in Schutz genommen, als sie ihn anblaffte, was er schon wieder wolle. Und dabei ist mir aufgefallen, wie er sie hin und wieder angestarrt hat. Ich glaube, die beiden würden echt gut zueinanderpassen, ich muss sie nur noch davon überzeugen, dass er ein richtig netter Kerl ist. Es wird höchste Zeit, dass sie jemanden in ihr Leben lässt.
Nachdem ich von Leon von Melissas Freund weiß, ist klar, dass ich mit meiner Vermutung zumindest nicht ganz falsch liege. So viele Hinweise und Indizien, die auf meinen Vater deuten, sind kein Zufall.
Ich brauch noch ein paar Tage, um alles zu verarbeiten und darüber nachzudenken, wem ich mich anvertrauen kann. Vielleicht doch Tessa? Ich hoffe, dass sie es versteht, wenn ich ihr erkläre, warum ich ihr schon nicht damals von der Affäre meines Vaters erzählt habe. Wenn ich die richtigen Worte finde, sage ich es meiner Mutter. Für sie wird es schlimm, zu erfahren, dass er sie ein zweites Mal betrogen hat. Noch dazu mit einem Mädchen, das seine Tochter sein könnte.
Oder vielleicht doch Steinmenger, unserem Vertrauenslehrer? Ich habe ihn zwar nicht gefragt, aber ich habe im Internet nachgelesen. Wenn ich nicht gefährdet bin oder jemanden anderen gefährde, muss er alles, was ich ihm erzähle, für sich behalten.
Meine Aufzeichnungen verstecke ich. Mama ist für meinen Geschmack zu oft in meinem Zimmer. Ich will ihr nichts unterstellen und sie wühlt nicht mit böser Absicht in meinen Sachen, aber seit ich Melissa gefunden habe, ist sie dermaßen besorgt um mich. Sie behandelt mich, als sei ich zehn und nicht bald achtzehn. Sie legt meine Wäsche zusammen, räumt sie in meinen Schrank, als wolle sie mich nicht mit diesen alltäglichen Dingen belasten. Vielleicht sucht sie auch nach Hinweisen, um herauszufinden, wie ich die ganze Sache verkrafte. Möglicherweise hat sie Angst, ich könne mich auch umbringen. Wer weiß schon, was in Müttern vorgeht? Auf jeden Fall soll sie es persönlich von mir hören und es nicht in meinem Gekrakel lesen.
Tja – und mein Vater? Der darf nichts von meinem Misstrauen ihm gegenüber erfahren. Ich glaube, ich war bisher so vorsichtig, dass er nichts gemerkt hat, aber sicher kann ich mir nicht sein.
UND WENN DAS ALLES NICHT STIMMT? Ich merke schon, ich klammere mich immer noch an Hoffnungen und Strohhalme. Was muss ich alles erfahren, um zu glauben, was ich nicht glauben will?
Wenn ich mich irre, dann ist es umso wichtiger, meine Tagebucheinträge zu verstecken. Wie soll ich jemals meinen Eltern in die Augen sehen können, wenn sich herausstellt, dass ich mir alles bloß eingebildet habe? Meine Mutter wäre maßlos enttäuscht, weil ich mit meinen Sorgen nicht gleich zu ihr gekommen bin. Wie ich es drehe und wende, mir kommt es so vor, als ob alles, was ich tue, falsch ist. Dabei will ich doch nur
Weitere Kostenlose Bücher