Frostengel
Aufmerksamkeit gewinnen? Das nächste Mal frage ich ihn, ob er sich nicht zu uns setzen will, da kann Tessa sich von mir aus auf den Kopf stellen. Ich mag ihn und es wäre gelacht, wenn ich es nicht fertigbringe, dass sie ihn auch ein klein wenig nett findet.
In Kunst bekomme ich nun doch eine Zwei – auch ohne fertiges Projekt. Die Meinhard meinte, sie habe Verständnis, dass ich meinen Film »unter den gegebenen Umständen« nicht abschließen kann. Ich könne ihn im zweiten Halbjahr immer noch nachreichen. Das bezweifle ich allerdings. Nie wieder werde ich in den Wald oder übers Feld gehen können, ohne Angst zu haben. Theresa meint, das Gefühl würde irgendwann vergehen. Ich hoffe, sie hat recht! Ich hasse es, nicht ich selbst zu sein.
Nicht einmal filmen kann ich mehr. Die Polizei hat mir meinen Camcorder gebracht, weil ich ihn ja verloren hatte. Ich schaffe es nicht mal, ihn einzuschalten. Womöglich funktioniert er überhaupt nicht, seit er im Schnee gelegen hat. Ein paar Mal hatte ich ihn in der Hand, aber sie hat so gezittert, dass ich ihn wieder weggelegt habe. Niemand scheint sich zu wundern, dass ich nicht mehr alles auf Film banne – wahrscheinlich sind die meisten sogar erleichtert. Sie reagierten eh jedes Mal genervt, wenn ich sie mit der Kamera aufnahm.
Ob sich Melissa dessen bewusst war, was ihr Selbstmord bei anderen auslösen würde? Hatte sie sich überlegt, wie das Leben desjenigen, der sie fand, aussehen würde? War ihr das egal gewesen? Mir bleibt nichts anderes übrig, als damit irgendwie zurechtzukommen. Melissa, du weißt ja gar nicht, welche Folgen dein Entschluss, dir das Leben zu nehmen, hat. Leute, die Selbstmord begehen, sind totale Egoisten. Das Einzige, was sie interessiert, sind sie selbst. Klingt hart? Ja, klar. Aber das ist es für mich auch.
Kapitel 12
Das Abendessen verlief besser, als ich erwartet hatte. Klaus, der »Bekannte« meiner Mutter – so hatte sie ihn uns vorgestellt, aber wem wollte sie damit was vormachen, es sah ein Blinder mit Krückstock, dass die zwei nicht nur »Bekannte« waren –, war im Grunde ein netter Kerl. Zumindest, wenn man ihn mit seinen Vorgängern verglich.
Er brachte Blumen mit. Einen Strauß für meine Mutter und jeweils eine gelbe Teerose für mich und Corinna. Meine Schwester schmolz gleich dahin, genauso wie meine Mutter, die meinte, die Blumen wären nicht notwendig gewesen. Da musste ich ihr ausnahmsweise zustimmen – immerhin arbeitete sie in einem Blumenladen und war jeden Tag von ihnen umgeben. Trotzdem sah ich ihr an, wie sehr sie sich freute, als würde sie zum ersten Mal einen Blumenstrauß bekommen. Es war schon beachtlich, wie leicht es war, ihr und auch meiner Schwester zu imponieren. Auf mich machte die Rose keinen Eindruck. Die Blume erinnerte mich an den Vormittag in der Schule – und die Rosen, die wir am Montag auf Julias Grab legen würden.
»Ich freu mich sehr, euch beide kennenlernen zu dürfen«, sagte Klaus, als wir alle um den Tisch saßen.
»Wir freuen uns auch«, übernahm Corinna die Antwort. Ich war erleichtert darüber, ich hätte nicht gewusst, was ich sagen sollte. Gleichfalls? Das wäre eine Lüge gewesen. Unfreundlich wollte ich aber auch nicht sein.
»Wo habt ihr euch eigentlich zum ersten Mal getroffen?«, fragte Corinna. Ich lehnte mich zurück. Das interessierte mich auch.
Mama sagte: »Klaus war bei mir im Blumengeschäft und hat zum Geburtstag seiner Schwester ein Gesteck gekauft.«
Klaus nickte und fuhr fort: »Ja, sie hatte ihren Fünfzigsten. Da sollte es schon was Besonderes sein. Das Gesteck hat ihr unheimlich gut gefallen – und mir eure Mutter.« Er lächelte und drückte die Hand meiner Mutter. »Also bin ich nachher noch einmal hin, um ihr zu sagen, wie toll die Blumen angekommen waren.«
Meine Mutter lachte. »Ja, ich wusste gleich, dass du beim zweiten Mal nicht nur reingekommen bist, um mich für das Gesteck zu loben.« Klaus wurde rot, und das machte ihn richtig sympathisch. »Na ja, auf jeden Fall stotterte ich wohl ein wenig herum. Ich bin’s nicht mehr gewohnt, mit hübschen Frauen zu flirten.«
Mama legte ihre Hand auf seine und mir fiel ausgerechnet Leon ein, der das Gleiche vor nicht allzu langer Zeit bei mir gemacht hatte. Eine beschützende Geste. Oder eine tröstliche.
»Macht nichts. Genau das war es, weswegen ich mit dir ausgegangen bin«, meinte Mama. Klaus lächelte sie an. Corinna schmolz dahin. Sie hatte für solche romantischen Geschichten viel übrig –
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