Frostengel
Er hat’s mir nicht gesagt. Er meinte, er sei nicht wie alle – und dann ist er einfach gegangen.«
Corinna tippte mit dem Schreibstift auf ihre Lippen. »Schwieriger Fall. Normalerweise protzen Jungs gerne mit so was. Ich mein, das ist es doch, worauf Mädchen in der Regel abfahren – wenn einer einen Führerschein und ein Auto hat.«
»Ein Auto hat er aber nicht«, gab ich zu bedenken.
»Vielleicht hast du seinen wunden Punkt erwischt«, sagte Corinna. Sie hatte recht. Nur dass Leons wunder Punkt nicht das fehlende Auto war.
»Und wenn er einfach nicht gerne angibt?«, sagte ich.
»Alle Jungs tun das, glaub mir. Besonders vor ihren Freunden. Da geht es doch immer nur darum, wer das bessere Smartphone hat, wer die cooleren Klamotten trägt, wer mehr Freundinnen gehabt hat. Nur bei Timo nicht. Der ist anders als die anderen. Der liebt mich und darum lieb ich ihn auch.«
Ich holte Luft, um ihr zu antworten, doch meine Schwester hob ihren Zeigefinger. »Fang bloß nicht wieder damit an!«
»Schon gut. Nur eins: Wenn Timo anders ist als die anderen und alle Jungs nur das eine wollen, dann müsste er sich zurückhalten können, oder?«
Ich kam mir genial vor. Wenn das kein guter Schachzug war! Doch mit ihren nächsten Worten setzte mich Corinna matt. »Oh ja, Timo schon, bloß ich nicht. – Aber um auf deinen Typen zurückzukommen«, sprach meine Schwester weiter, ohne zu merken, wie sehr mich ihre Worte eben geschockt hatten. »Timo kann es auch nicht leiden, wenn er mit den anderen Jungs in den gleichen Topf geworfen wird. Vielleicht tickt deiner ja ähnlich.«
Meiner, wie sich das anhörte! Fast hätte ich laut gelacht. Aber Corinna hatte mir einen wichtigen Ansatz geliefert, mit dem ich vielleicht weiterkam. Leon war durch und durch Individualist. Wenn ich ihn nicht vergraulen wollte, dann durfte ich nicht von meinem spärlichen Wissen über Jungs ausgehen. Ich würde mich ganz auf ihn einlassen müssen, würde ihn, seine Persönlichkeit, kennenlernen müssen. Irgendwie freute ich mich darauf, Leon das nächste Mal zu sehen. Ich redete mir ein, dass ich bloß unbedingt mein neu erlangtes Wissen über die Spezies Jungs anwenden wollte.
»Timo weiß alles über mich«, sagte Corinna da gerade. »Ich habe echt keine Geheimnisse vor ihm.«
»Auch, dass du noch mit sechs ins Bett gemacht hast?«, fragte ich grinsend.
Corinna boxte mich auf den Arm. »Blödfrau! Das würde ich ihm nie verraten. Außerdem stimmt das nicht.« Ich wusste, ihre Laune würde gleich kippen, daher lenkte ich ein: »Was ich damit sagen wollte, ist, dass es immer etwas gibt, was man lieber für sich behält, oder? Auch wenn man verliebt ist.«
Corinna dachte nach. »Aber wem sollte man sonst alles erzählen, wenn nicht dem, den man liebt?«
Eine gute Frage. Für mich gab es niemanden mehr, dem ich wirklich alles erzählen konnte. Julia hatte ich viel erzählt, aber mit dem ganzen Mist mit meiner Mutter und so habe ich ihr auch nicht in den Ohren hängen wollen. Ob es umgekehrt auch so war? Hatte sie ebenfalls Geheimnisse gehabt, die sie nicht einmal mir, ihrer besten Freundin, anvertrauen wollte?
Ich dachte daran, dass ich in schwierigen Zeiten Tagebuch geführt hatte. Da hatte ich meine Gefühle, meinen Hass auf meine Mutter, meine Verzweiflung hineingeschrieben. Einfach alles. Auch jene Dinge, die ich Julia nie erzählen konnte, weil sie, in ihrer heilen Welt, meine Probleme nicht verstanden hätte.
Irgendwann, nachdem Corinna meine Tagebücher in meinem Versteck gefunden und gelesen hatte, verbrannte ich sie. Seitdem ließ ich die Finger davon, aber ich wusste, dass auch Julia mal Tagebuch geschrieben hat. Wenn sie sich schon nicht mir anvertraut hatte … vielleicht würde ich in ihrem Tagebuch etwas Hilfreiches entdecken. Auf jeden Fall war ich bereit, mich an jeden erdenklichen Strohhalm zu klammern, um die Wahrheit über Julias Tod zu finden.
Corinna schubste mich an. »Also, wem würdest du deine Geheimnisse verraten?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Und jetzt, wo Julia tot war, hatte ich nicht einmal mehr sie. Aber ich war bisher gut damit klargekommen, Dinge für mich zu behalten. Ohnehin fand ich, dass man nicht alles unbedingt herausposaunen musste.
Bevor Corinna mir noch mehr unangenehme Fragen stellen konnte, auf die ich keine Antwort wusste, stand ich auf.
»Komm«, sagte ich. »Hoffentlich ist Mamas Gast bald da, ich habe einen Bärenhunger.«
Da hörte ich auch schon die Türklingel. Ich
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