Frostengel
atmete durch, wappnete mich innerlich auf das bevorstehende Abendessen und nahm mir vor, meinen Appetit von nichts und niemandem verderben zu lassen.
9. Februar 2012
So wie mein Leben zurzeit verläuft, ist es einfach nur beschissen. Ich kenne mich selbst kaum mehr, tue Dinge, die ich früher nie getan habe – und es erschreckt mich, wie leicht sie mir von der Hand gehen. Wie leicht mir Lügen über die Lippen kommen, als hätte ich Übung darin.
Mein Vater wurde zu einem Notfall gerufen und in der Eile vergaß er das Handy auf seinem Schreibtisch. Ich ging sein Telefonverzeichnis durch und fand Melissas Namen und ihre Nummer. Gut, es gab keine kompromittierende SMS, keine Liebesschwüre, aber so dumm wäre er wohl auch nicht. Schließlich tat er das ja nicht zum ersten Mal.
Ich durchsuchte die Schreibtischschubladen, fand aber nichts. Wäre ja auch ziemlich blöd von meinem Vater, wenn er seine Liebesbriefe im Haus aufbewahren würde, wo sie meine Mutter oder ich finden könnten. Doch irgendetwas musste es doch geben. Oder vielleicht war Melissa anders gestrickt als ich oder die anderen Mädchen in meinem Alter und sie legte keinen Wert auf Briefe, Fotos oder sonstige Liebesbeweise. Nur kann ich mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen. Alle Mädels, die ich kenne, mich eingeschlossen, verzieren Hefte und Mappen mit den Initialen ihres Liebsten. Na ja, Tessa vielleicht nicht. Aber das wird sich auch noch ändern … wer weiß!
Mädels schreiben Briefchen, telefonieren, haben mindestens ein Foto von »ihm« dabei, schreiben Mails. Vielleicht hatte Melissa ja wirklich gemailt, wo sie doch so darauf bedacht war, vor ihren Eltern ihre Freunde zu verbergen. Und wenn mein Vater ihr Liebhaber war, kann ich ihre Heimlichtuerei umso besser verstehen.
Ich habe mir das Gespräch mit Melissas Eltern noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Auch wenn die Polizei ihnen bestimmt von dem Baby erzählt hatte, mir gegenüber hatten sie es mit keinem Wort erwähnt. Warum nicht? Ging es ihnen darum, den Schein zu wahren, oder verdrängten sie die Wahrheit, weil nicht sein kann, was nicht sein darf?
Wie einfach wäre es für mich, ebenfalls die Augen zu verschließen und so weiterzuleben wie bisher. Aber ich bin nicht wie die Schikols. Es wäre nicht richtig, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Heute früh vor der Schule hatte ich schon wieder das Gefühl, beobachtet zu werden, aber Theresa lachte mich aus. Sie wirbelte herum, zeigte auf die Menge der Schüler, die jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn vor dem Schulgebäude warten, und fragte, ob ich erst jetzt merken würde, dass ich seit dem Fund immer von allen angestarrt würde. Ehrlich gesagt, ist mir das wirklich noch nicht aufgefallen. Aber es wundert mich nicht, dass ich Dinge sehe, die es nicht gibt – oder dass mir etwas nicht auffällt, was für alle offensichtlich ist. Das kommt daher, dass ich so gut wie keine Nacht durchschlafe, seit ich Melissas Leiche gefunden habe. Heute zum Beispiel bin ich hochgeschreckt, weil ich sie vor mir sah. Sie lag im Schnee, ganz wie in Wirklichkeit, doch als ich weglaufen wollte, setzte sie sich auf, starrte mich an und öffnete den Mund, als wolle sie mir etwas Wichtiges sagen. Sie streckte ihre Hände nach mir aus. Diese Hände – mit Vaters Handschuhen. Ich erwachte von meinem eigenen Schrei.
Danach hatte ich Angst, wieder einzuschlafen. So kann es nicht mehr lange weitergehen. Ich habe mir sogar überlegt, ob ich mir von meinem Vater nicht ein leichtes Schlafmittel verschreiben lassen soll, und daran sieht man, wie verzweifelt ich bin. Nicht umsonst ist Schlafentzug bis heute noch eine beliebte Foltermethode, wie wir in Geschichte gelernt haben. Von der Idee mit dem Schlafmittel bin ich aber abgekommen, mein Vater würde mir ohnehin keins geben. Mama habe ich auch nicht erzählt, dass ich nicht schlafen kann. Sie macht sich sowieso viel zu viele Sorgen um mich und ihre Medizin kenne ich: ein heißes Bad und einen beruhigenden Tee. Nur dass bei mir beides bisher nicht geholfen hat.
Heute war Notenkonferenz – und wir hatten früher Schulschluss. Tessa und ich haben in der Stadt Leon getroffen und jetzt, nachdem ich darauf achte, bin ich mir sicher, dass er auf sie steht. Ich winkte ihm zu, er nickte, doch Theresa zog mich weiter und zischte mir ins Ohr, wie sehr Leon nerve. Man könne kaum einen Schritt tun, ohne dass er dabei sei. Dabei stimmt das erstens nicht und zweitens würde ich es sogar verstehen. Wie soll er sonst ihre
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