Frostengel
nahm das Buch vom Tisch. Eigentlich hätte ich froh sein müssen, dass jetzt die ganze Wahrheit draußen war. Doch anstatt erleichtert zu sein, war ich traurig. Es kam mir vor, als hätte ich nach meiner besten Freundin auch noch einen Freund verloren.
17. Februar 2012
Der letzte Schultag vor den Ferien. Ich war noch nie so froh, endlich freizuhaben – und dann auch wieder nicht. Einerseits brauche ich diese Zeit, um weiter etwas über die Affäre meines Vaters herauszubekommen. Tatsachen, die beweisen, dass er Schuld an Melissas Selbstmord hat. Dass er eine Affäre mit ihr hatte. Er würde mich für verrückt erklären lassen, wenn ich ihm das so unbegründet vor die Füße werfen würde. Ich würde ihn überführen müssen, eindeutige Fakten schaffen. Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, was ich gesehen habe.
Ich habe Tessa gefragt, ob sie es für möglich hält, dass Melissa mit einem verheirateten Mann liiert war, der sie geschwängert hatte. Sie meinte, das sei möglich, aber es wäre doch kein Grund, sich umzubringen. Sie jedenfalls würde das niemals tun. Kein Kerl der Welt sei das wert. Sie spinnt sich ihre eigenen Geschichten zusammen, die liebe Tessa. Sie hat sogar die Vermutung in den Raum gestellt, Melissa sei vielleicht vergewaltigt oder vom eigenen Vater missbraucht worden.
Immerhin hat Tessa damit erreicht, dass ich auch noch weitere Möglichkeiten in Erwägung ziehe. Vielleicht gibt es eine andere Erklärung für die eingespeicherte Telefonnummer Melissas in seinem Handy, für ihre Besuche in seiner Praxis, für ihre Anwesenheit in seinem Auto – und schlussendlich für die Handschuhe, die sie trug, als ich sie dort liegen sah. Vielleicht kann es wirklich ganz anders abgelaufen sein.
Jedenfalls habe ich jetzt zehn Tage Zeit, um Nachforschungen anzustellen. Das ist das Positive an den Ferien.
Allerdings wird mir jetzt schon übel, wenn ich daran denke, dass ich mich jeden Tag, Stunde um Stunde, verstellen muss. Meine Eltern haben sich Urlaub genommen. Ursprünglich wollten wir Ski fahren gehen, doch nachdem ich Melissas Leiche gefunden habe, stornierten sie die Reise. Mein Vater meinte, wir sollten trotzdem fahren, die frische Luft und die Bewegung würden mir guttun. Außerdem sei nach diesem Erlebnis ein Ortswechsel ratsam. Meine Mutter hingegen fand, ich sei nicht kräftig genug und in dieser belastenden Situation sei es notwendig, ein stabiles Umfeld zu haben, bei meinen Freunden zu sein. Deswegen gab es sogar Streit zwischen meinen Eltern – na ja, eher eine Meinungsverschiedenheit. Schließlich mischte ich mich ein und wollte wissen, warum sie nicht mich fragen. Sie könnten ja fahren, ich sei alt genug, um eine Woche allein zu Hause zu bleiben. Sie sahen sich entsetzt an und waren sich einig, dass diese Option nicht infrage kam. Nicht in meinem »Gemütszustand«. Wenn ich nicht verreisen wolle, würden sie natürlich auch daheimbleiben. Und das heißt, ich habe beide den ganzen Tag am Hals. Ich hoffe, dass ich möglichst viel Zeit bei Tessa oder unterwegs auf Recherche verbringen kann. Irgendwas fällt mir schon ein. Den Rest der Zeit verziehe ich mich einfach in mein Zimmer.
Ich habe mich dazu entschlossen, meine Aufzeichnungen in unserem alten Versteck unterzubringen. Da bin ich jetzt.
Es wäre schön, wenn das Baumhaus geheizt wäre. Lange kann ich nicht in der Kälte sitzen. Meine Schrift kann auch kein Schwein lesen, mit Handschuhen schreibt es sich miserabel, aber Frostbeulen am Finger sind auch nicht sexy. Also muss es halt so gehen. Eine dauerhafte Lösung ist das bestimmt nicht, aber im Moment bleibt mir nichts anderes übrig. Ich hoffe immer noch, dass ich in ein paar Tagen das Tagebuch wieder in mein Zimmer bringen kann, weil sich alles zum Guten auflöst und ich über meine dummen Verdächtigungen lachen kann. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich.
Es ist so eisig, meine Nase ist garantiert schon rot und blau gefroren. Ich überlege ernsthaft, Leon zu fragen, ob ich ihm meine Notizen anvertrauen kann. Natürlich ohne dass er sie liest. Aber ich glaube, so weit geht unser Vertrauensverhältnis (noch) nicht. Also muss ich mich einigermaßen kurz halten. Ich komme sobald wie möglich wieder, um aufzuschreiben, was ich herausgefunden habe.
Kapitel 14
Mit der Jacke in der Hand flüchtete ich aus Leons Wohnung. Fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert. Gerade noch fing ich mich. Erst jetzt bemerkte ich die Tränen auf meinen Wangen. Kein Wunder, dass ich halb
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