Frostengel
blind durch die Gegend stolperte. Kälte drang durch meinen dünnen Pulli. Doch selbst nachdem ich in die Jacke geschlüpft und meine Schuhe ordentlich zugebunden hatte, wurde mir nicht wärmer.
Planlos stapfte ich durch die Gegend, einfach um in Bewegung zu bleiben. Wie konnte ich so dumm sein? Gerade, als Leon anfing, mich zu mögen. Mir zu vertrauen.
Das Laufen brachte mich wieder ein wenig runter. Ich ärgerte mich, weil ich nicht cool geblieben war. Warum hatte ich auch weglaufen müssen? Schließlich hatte ich keinen Grund für ein schlechtes Gewissen. Es war richtig gewesen, Karin Zauner zu bitten, ihm auf den Zahn zu fühlen. Es war aber nicht richtig gewesen, ihm was vorzumachen, flüsterte eine leise Stimme in mir. Widerwillig gestand ich mir ein, dass die Stimme recht hatte. Wenn ich ehrlich war, hatte Leon jeden Grund, sauer auf mich zu sein. Was hatte ich dumme Kuh denn erwartet? Dass er zu mir sagte: »Kein Problem, dass du mich verdächtigst, mir die Polizei auf den Hals hetzt und dich unter einem Vorwand in meine Wohnung schleichst«?
Sein verletzter Gesichtsausdruck fiel mir ein. Auch wenn Jungs für mich ein Buch nicht mit sieben, sondern eher doppelt so vielen Siegeln waren, hatte ich neben seinem Ärger noch etwas anderes erkannt: Leon war enttäuscht. Furchtbar enttäuscht. Von mir.
Ich wischte mir über die Augen. Saublöde Kälte.
Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, etwas zu tun, das ich noch nie getan hatte: Ich schrie. Die wenigen Passanten drehten sich nach mir um und schüttelten den Kopf, doch das war mir egal. Seltsamerweise fühlte ich mich dadurch ein kleines bisschen besser. Gleichzeitig wusste ich, dass dieser Zustand nur kurz anhalten würde. Ich wollte nur noch nach Hause. Vielleicht würde laute Musik helfen, Leons Gesichtsausdruck aus meinem Kopf zu fegen.
Meine Mutter war zu Hause und hatte es sich mit einem Buch auf dem Sofa bequem gemacht. Ich war zu Fuß gegangen und meine Wangen und Finger begannen zu brennen, als ich in unsere geheizte Wohnung kam.
»Schon zurück?«, fragte meine Mutter überflüssigerweise. Schließlich sah sie doch, dass ich da war. Ich nickte nur. Sie legte das Buch aufgeschlagen zur Seite und setzte sich auf. »Wie war’s denn? Wie geht es Julias Eltern?«
»Wie soll es ihnen schon gehen«, antwortete ich patzig, aber sofort regte sich mein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin nur … durcheinander.« Mit einem Seufzer ließ ich mich neben meine Mutter auf die Couch sinken. »Die Mechats sind so nett zu mir. Ich meine, das waren sie vorher auch, aber da war ich Julias Freundin. Doch jetzt? Sie haben keinen Grund, überhaupt mit mir zu reden, geschweige denn, mich einzuladen. Trotzdem tun sie es. Ich habe Fotos auf Julias Rechner gefunden. Von mir. Alte Fotos. Von manchen wusste ich gar nicht, dass es sie gibt und wann Julia sie gemacht hat.«
»Willst du sie mir zeigen?«
Ja, das wollte ich tatsächlich. Ich stand auf, um sie aus meiner Jackentasche zu holen.
Als ich mich das zweite Mal neben meine Mutter setzte, schien es mir ganz selbstverständlich, mich an ihre Schulter zu lehnen. Sie zögerte nur kurz, bevor sie ihren Arm um mich legte. Gemeinsam sahen wir uns die Bilder an.
»Das Fahrrad. Weißt du noch, wie sehnsüchtig du dir es gewünscht hast? Ich bin dafür einen ganzen Monat putzen gewesen, um es dir kaufen zu können.«
Nein, das hatte ich nicht gewusst. Sie hatte es mir bis jetzt nie erzählt.
»Ach und hier. Euer Versteck.«
»Ja, ich habe regelmäßig die Keksdose gemopst, damit Julia und ich im Baumhaus picknicken konnten.«
Meine Mutter lachte. »Glaub nur nicht, das hätte ich nicht gemerkt!«
»Du hast aber nie was gesagt.«
Sie wurde ernst. »Nein, natürlich nicht. Warum hätte ich euch den Spaß verderben sollen? Klar, ich hätte dir die Keksdose auch einfach in die Hand drücken können, aber wäre es dann nicht nur halb so aufregend gewesen?«
»Mama? Ich frage mich, warum Julia an diesem Tag alleine nach Hause gegangen ist. Weil es aufregender war, als sich abholen zu lassen?«
Meine Mutter dachte nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, sie war doch so vernünftig. Es wäre ganz und gar unklug gewesen, um diese Uhrzeit in der Kälte zu Fuß zu gehen, noch dazu allein. Sie muss entweder einen guten Grund gehabt haben oder jemand hat sie mitgenommen.«
Endlich sah noch jemand die Dinge so wie ich. Danke, danke, Mama. Ich hatte schon befürchtet, ich würde spinnen.
»Aber wer?
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